Von der Normalität der Krise

von Redaktion

Beim Jahresempfang der Caritas und der erzbischöflichen Diakonate debattieren Vertreter von Politik, Kirche und Zivilgesellschaft, wie aus der aktuellen Krisensituation Gutes für die Gesellschaft entstehen kann. Das zentrale Stichwort lautet: Ehrenamt.

Kolbermoor/Rosenheim – „Nicht jammern. Handeln!“ Dieser Aufruf zog sich wie ein roter Faden durch den Jahresempfang der Caritas und der erzbischöflichen Diakonate in Stadt und Landkreis Rosenheim, der kürzlich im Mareissaal in Kolbermoor stattfand.

Dessen Thema: die Normalität der Krise. Denn Krisen habe es in der Menschheitsgeschichte immer gegeben, meinte Landkreisdekan Klaus Vogl in seiner Predigt während des Eröffnungsgottesdienstes. „Schon die Evangelien berichten davon.“ Und kennzeichnend für alle Krisen sei eigentlich eines: „Man ist mit den bislang geübten Verhaltensmustern an die Wand gefahren, kommt damit definitiv nicht mehr weiter. Neue Wege müssen beschritten werden und das ist unbequem, macht bisweilen sogar Angst“, so Vogl.

Auch für Caritas-Geschäftsführer Erwin Lehmann spielt sich das, was eine Problemlage zu einer Krise macht, vor allem in den Menschen selbst ab: „Mutlosigkeit, Untätigkeit, Stillstand – das sind die eigentlichen Krisenfaktoren, und sie sind nicht von außen vorgegeben, sie entstehen im Kopf.“

Baustellen gibt es
für die Kirche genug

Natürlich, da waren sich Klaus Vogl und Erwin Lehmann einig, sind die derzeitigen Probleme der Kirche ernst und zahlreich. Eine in ihren Folgen noch nicht überwundene Corona-Pandemie, der Krieg vor der Haustür Europas, akuter Arbeitskräftemangel in jedem Feld der Betreuung, dazu die Belastung durch die Missbrauchsfälle der Vergangenheit und deren zumindest teilweise missglückte Aufarbeitung: Baustellen gebe es genug. Zudem sei eines klar, wie Dekan Klaus Vogl meinte: „Es wäre ein fataler Irrtum zu glauben: Wenn wir nur energisch genug an ein paar der alten Stellschrauben drehen, dann wird es irgendwann wieder so wie früher.“ Das sei schlicht falsch. „Es wird nie wieder wie früher“, betonte er. Diese Erkenntnis dürfe aber keinesfalls zur Resignation führen, meinte Erwin Lehmann. Vielmehr gelte es, die Chancen zu sehen, die darin für die Zukunft steckten.

Welche neuen Wege man dabei beschreiten kann, das auszuloten war Ziel einer Podiumsdiskussion, die den Hauptteil des Empfangs ausmachte. Geladen dazu waren Praktiker aus der Politik, wie Rosenheims Zweiter Bürgermeister Daniel Artmann und Andrea Rosner, die stellvertretende Landrätin. Vor allem aber auch Privatpersonen, die sich auf verschiedensten Feldern um eine Verbesserung der jeweiligen Situation bemühen – unermüdlich und im unentgeltlichen Ehrenamt. So zum Beispiel Christine Grotz, die, früh verwitwet, alleine eine Tochter mit Beeinträchtigungen großzog und dennoch Zeit für Ehrenämter fand. „Sich, weil man selbst Probleme hat, auf diese zurückzuziehen, ist die falsche Lösung“, sagte sie bei der Podiumsdiskussion. „Der Mensch braucht Kontakte und man kann fast in jeder Lebenssituation für andere noch Hilfe und Gewinn sein.“

„Ehrenamt“, das war denn auch für Kreisgeschäftsführer Erwin Lehmann ein zentrales Stichwort: Nötig sei der Wandel unseres Gemeinwesens hin zu einer echten Bürgergesellschaft. Nur wenn alle, die an Bord seien, Personen wie Institutionen, sich auch gemeinsam bereitfänden, zu rudern – und zwar in ein und dieselbe Richtung –, werde Fortbewegung möglich. Um etwa die Pflege in einer immer schneller alternden Gesellschaft zu sichern, sei in Zukunft nachbarschaftliches Engagement ebenso gefragt, wie politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die so ein Engagement überhaupt denkbar machten. „Wer helfen will, braucht auch Strukturen, die ihm das ermöglichen“, sagte Erwin Lehmann.

Zivilgesellschaft und
Staat Hand in Hand

Eine gerechte Teilhabe an den Errungenschaften des Sozialstaates für alle, gerade auch für die, die am Rand stehen, bleibe dabei die Kompassnadel, so Lehmann. Das machte auch Rudolf Starzengruber deutlich, der sich im Verein OSPE (Oberbayerische Selbsthilfe Psychiatrie-Erfahrener) für alle einsetzt, die psychische Probleme haben. „Es darf keine Stigmatisierung derartiger Krankheiten geben“, sagte er, denn auch hier gelte: Kontaktlosigkeit verschärfe die Probleme nur.

Ähnlich argumentierte Omid Ebrahimi, der aus Afghanistan stammt und heute als IT-Spezialist arbeitet und als ein Beispiel gelungener Integration gelten kann. Für ihn ist das A und O, dass junge Asylbewerber möglichst bald arbeiten oder eine Ausbildung machen dürfen: „Die ersten beiden Jahre hier in Deutschland sind es, in denen in Sachen Integration entscheidende Weichen gestellt werden“, erklärte er.

Nach Meinung aller Diskussionsteilnehmer zeigt sich buchstäblich in jedem Feld, dass Staat und Zivilgesellschaft nicht länger Verantwortung auf den jeweils anderen abwälzen können, sondern stattdessen konstruktiv und im Schulterschluss zusammenarbeiten müssen. Wichtigste Voraussetzung dafür sei, miteinander zu reden und sich zuzuhören. Wenn das gelinge, davon waren nicht nur Erwin Lehmann, sondern auch die anderen Teilnehmer überzeugt, könnte die derzeitige Krisensituation sogar ihr Gutes haben: eine positive Weiterentwicklung unserer Gesellschaft.

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