Rosenheim/Kassel – Im Zuge einer Betrugsserie nach der Masche „Falsche Polizisten“ im Raum Rosenheim schädigte eine polnische Bande auch eine 72-Jährige in Kassel. Unter den Tätern war eine inzwischen 22-Jährige aus Warschau, die als Logistikerin und als Abholerin fungiert hatte. Sie stand kürzlich zum zweiten Mal vor dem Landgericht Traunstein. Die Zweite Jugendkammer mit Vorsitzender Richterin Jacqueline Aßbichler ermäßigte die Gesamtstrafe der Jugendkammer vom November 2022 um zwei Monate auf sechs Jahre zehn Monate.
Entscheidung über
Einzelstrafe
Der neuerliche Prozess fand auf Weisung des Bundesgerichtshofs statt, der einen Teil des Urteils im April aufgehoben hatte. Deshalb musste über eine Einzelstrafe nochmals entschieden und eine neue Gesamtfreiheitsstrafe gebildet werden. Im Kern ging es um den Wert der Beute, im ersten Urteil beziffert mit 395196 Euro.
Die Geschädigte hatte eine Liste und Fotos von Dutzenden Schmuckstücken und Uhren vorgelegt. Diese Beweismittel übernahm die Jugendkammer im Urteil. Der Bundesgerichtshof erkannte sie nicht an und forderte, ein Sachverständiger solle den Wert der Beute ermitteln. Damit musste auch der gesetzliche Wertersatz neu berechnet werden.
Die 72-Jährige hatte am 25. Juni 2021 einen Anruf von einem „Beamten der Kasseler Polizeistation“ erhalten. Die Tochter habe einen tödlichen Verkehrsunfall verschuldet, hieß es. Gefängnis könne die Mutter durch Zahlung von 44000 Euro abwenden. Im Hintergrund war lautes Weinen zu hören. Der sogenannte „Keiler“ fragte so geschickt, dass er auch von dem Goldschmuck erfuhr. Die Zeugin schilderte, der „Polizist“ habe ihr am Handy einen Sachverständigen angekündigt. Sie habe jedes der Schmuckstücke – darunter kostbarer Erbschmuck aus Gold und Platin, besetzt oft mit Brillanten und anderen wertvollen Steinen – beschreiben, auf einem Zettel notieren und abwiegen müssen.
Ihr sei gesagt worden, eine „Mitarbeiterin des Sachverständigen“ würde das Päckchen abholen. Es habe an der Wohnungstüre geklingelt. Beim Öffnen habe sie, so die Zeugin weiter, den Ausweis der Frau verlangt. Die Frau habe einzig gesagt: „Bei Polizei.“ Die 72-Jährige antwortete der Unbekannten damals: „Sie sind niemals die Mitarbeiterin des Gutachters.“
Die Zeugin zog sich zurück in die Wohnung, wurde jedoch von dem „Keiler“, der immer noch am Handy war, angeherrscht, sie solle sofort wieder rausgehen. Der „Staatsanwalt“ sei auch schon da. Wenn sie die Wertsachen nicht übergebe, komme die Tochter ins Gefängnis. Die 72-Jährige erinnerte sich: „Wenn ich meine Tochter sprechen wollte, rief eine Frau heulend ‚Mama, Mama‘. Es war alles so echt. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Da bin ich wieder raus, wollte den Schmuck trotzdem nicht hergeben. Da schlug mir die Angeklagte auf den Arm und riss mir das Päckchen weg.“
Es sei niemand auf der Straße gewesen, der ihre Hilfeschreie hätte hören können. Zehn Minuten später traf ihre Tochter ein – wohlbehalten. Sie hatte sich nach einem Arztbesuch wegen eines Staus verspätet.
Die Nebenklägerin hatte mehrere Wochen Schmerzen im Arm. Viel schlimmer waren die psychischen Folgen. Wörtlich meinte sie unter Tränen: „Ich habe das Gefühl, dass ich fürchterliche Schuld auf mich geladen habe. Darüber komme ich nicht hinweg.“
In psychologischer
Behandlung
Bis heute sei sie in psychologischer Behandlung. 1988 sei bei ihr eingebrochen worden. Seit der Tat im letzten Jahr habe sie bereits wieder Anrufe mit „Hallo Mama, ich habe einen schweren Unfall verschuldet“ erhalten. Glücklicherweise sei einmal ihre Tochter neben ihr gestanden. Beim nächsten Anruf mit den Worten „eine Frau ist gestorben“ habe sie aufgelegt.
Die 72-Jährige berichtete, ihre Versicherung habe bislang nichts bezahlt. Sie habe einen Anwalt eingeschaltet. Ihre finanzielle Lage sei mittlerweile desolat, ihr ganzes Vermögen weg. Der Vermieter mache Probleme.
Die Tochter ergänzte, die Mutter habe Angstzustände, könne schlecht schlafen und sei manchmal ganz durcheinander. Die jüngsten Anrufe hätten sie „in einen Schockzustand versetzt“. Die notwendige Neuermittlung des Beutewerts nahm Goldschmiedemeister Thomas Trübenreif aus Rosenheim vor. Er betonte, die von dem Opfer genannten „Wiederbeschaffungswerte“ seien zutreffend. Doch müsse der „Verkehrswert“ zugrunde gelegt werden. Die 72-Jährige war sichtlich enttäuscht über die rund 65000 Euro, auf die der Gutachter als Gesamtwert für ihre Schmuckstücke kam.
Richterin Jacqueline Aßbichler wies darauf hin, gestohlener Schmuck werde von den Tätern schnellstens zerlegt, Edelmetalle würden eingeschmolzen. Das Gericht müsse wissen: „Was kriegen die Täter mindestens beim Materialverkauf? Das ist erschreckend, ist juristisch aber so.“ Unmöglich sei zudem, Schmuck zu bewerten, „den man nicht in der Hand hat“. Ein Gutachter könne nur eine Schätzung vornehmen.
Verteidiger
fordert fünf Jahre
Im Plädoyer forderte Verteidiger Raphael Botor aus Rosenheim eine Gesamtstrafe von fünf Jahren, Staatsanwalt Ferdinand Hohenleitner sowie Nebenklagevertreter Korbinian Ortner aus Traunstein sieben Jahre. Den Gesamtwertersatz, von dem 204000 Euro durch den Bundesgerichtshof schon rechtskräftig geworden waren, bezifferte die Zweite Jugendkammer neu mit 265357 Euro. Die Justiz werde bei der 22-Jährigen aber wohl kaum etwas eintreiben können, merkte die Vorsitzende Richterin an.