Rosenheim – Dass sich um Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger und um seine Partei ein Unwetter zusammenbraut, bekam Christine Degenhart am Samstagvormittag mit. Die Rosenheimer Stadträtin der Freien Wähler las in der „Süddeutschen Zeitung“, dass Aiwanger mit einem menschenverachtenden Flugblatt in Verbindung gebracht wird. Sie war bedient. „Eine schwierige Angelegenheit“, sagt sie. „Eine schmutzige Geschichte.“
Am Nachmittag war das Beben dann auch beim Rosenheimer Herbstfest zu spüren. Vor dem Hintergrund des Verdachts, er habe als Gymnasiast eine Schmähschrift im Nazi-Jargon verfasst, sah Aiwanger von einem Besuch der Rosenheimer Wiesn ab. Im Jahr zuvor hatte er dort noch dirigiert. Aiwanger als Taktgeber im Bierzelt, das wird als er passend für sich angesehen haben. Da schien er ganz im Einklang mit sich und den Festgästen.
Rätsel und
Vertrauensbruch
Nun ist alles anders. Die Lage ist angespannt, der Koalitionspartner CSU sauer. Da strich auch Generalsekretärin Susann Enders der Freien Wähler ihren für den Montag angesagten Herbstfest-Besuch.
Von einem „Rätsel“ spricht der Landtagskandidat Gerhard Schloots. „Das Schreiben ist unbestritten, glaube ich. Aber wer weiß schon, wer es geschrieben hat?“ Eingeräumt hat Hubert Aiwanger mittlerweile, dass er als 17-Jähriger tatsächlich einige Exemplare des Flugblatts in seiner Schultasche mit sich geführt habe. In dem Flugblatt geht es um „Vaterlandsverräter“, die „Preise“ gewinnen können. Etwa einen „Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“. Oder eine „kostenlose Kopfamputation durch das Fallbeil“.
„Abgrundtief zynisch und scheußlich“ findet Christine Degenhart das Flugblatt. So unumstritten das sei, so zweifelhaft ist für sie doch die Urheberschaft Aiwangers. „Ich habe so oft mit ihm gesprochen. Wer Hubert Aiwanger zum Antisemiten abstempelt, liegt falsch“, sagt sie mit Bestimmtheit.
Tatsächlich hat mittlerweile der ältere Bruder des stellvertretenden Ministerpräsidenten, Helmut Aiwanger, die Verantwortung für das Flugblatt übernommen. Bleibt die Frage, warum dann Hubert Aiwanger Kopien des Machwerks in seiner Schultasche spazieren trug. „Ich habe da keine Ahnung“, sagt Gerhard Schloots.
Die Fassungslosigkeit ist den Freien Wählern in der Region Rosenheim anzuhören. Ebenso das Entsetzen über die Sprache des maschinengeschriebenen Blatts, die an das Nazi-Hetzblatt „Stürmer“ erinnert. „Ich bin der Meinung, dass das sauber aufgeklärt werden muss“, sagt Degenhart.
Allerdings wittert sie in dem Skandal um das Hetzblatt auch eine Kampagne. Sie bezeichnet den Zeitpunkt der Veröffentlichung, gut 35 Jahre, nachdem das Blatt im Burkhart-Gymnasiums in Mallersdorf-Pfaffenberg aufgetaucht war, „perfide“. Und auch Sepp Hofer, stellvertretender Rosenheimer Landrat, glaubt nicht an einen Zufall. „Dass das eine blöde Sache ist, da gibt es keinen Zweifel“, meint er. „Aber wer bringt das auf vor der Wahl? Und wer erhebt solche Vorwürfe und geht nicht raus aus der Deckung?“
Namentlich bekannt ist der Öffentlichkeit bislang keiner der Zeugen, die Aiwanger belasten. Allerdings hat Hubert Aiwanger seine Verwicklung in die Affäre selbst eingeräumt, auch wenn noch wichtige Fragen offenbleiben. Sepp Lausch verstärkt dennoch die Kritik. Er erzählt von Gesprächen, die er seit Bekanntwerden der Vorwürfe am Wochenende geführt hat. „Es herrscht Fassungslosigkeit, wie im Wahlkampf versucht wird, einen Menschen zu zerstören“, schimpft er.
Ein Mensch, der sich wandeln dürfe, darauf pochen Lausch und Hofer. „Wer hat als junger Mensch nicht mal Mist gebaut“, fragt Lausch rhetorisch.
Hofer sieht ungleiche Maßstäbe angelegt. „Der eine Politiker hat Erinnerungslücken bei Vorfällen, die erst ein paar Jahre her sind“, sagt er in Anspielung an Bundeskanzlers Scholz und die Steuer-Affäre um die Warburg Bank. Und der Flugblatt-Vorfall sei Jahrzehnte her. „Der Mensch ist auch dazu da, dass er dazulernen darf“, sagt er. „Ein 52-jähriger Aiwanger hat das Recht genau so wie jeder andere, das muss man einem Menschen zugestehen.“ Allerdings hatte Aiwanger selbst immer wieder Zweifel ausgelöst. Bei Markus Lanz zum Beispiel hatte er von einer lediglich formalen Demokratie in Deutschland gesprochen, in Erding die Menschen aufgefordert, sich die Demokratie zurückzuholen – als sei die in Deutschland dem Volk entwendet worden.
Die Freien Wähler sind die drittstärkste Kraft im Landtag. In der Region Rosenheim kamen sie 2018 auf über zwölf Prozent der Stimmen, doppelt so viele wie die SPD. Eigentlich sah bis zuletzt ja auch alles danach aus, dass man weiter den Freistaat an der Seite der CSU reagieren werde. Womöglich mit zwei Rosenheimern: Lausch geht auf Listenplatz 15 ins Rennen, Parteifreund Schloots bewirbt sich auf Platz 26. 2018 hätte das für den Landtag gereicht. Und bis zum Wochenende sah es sogar nach einem noch besseren Ergebnis aus – dank des Zugpferds Aiwanger.
Besuche in der
Region fraglich
„Ich glaube nicht, dass das ohne Spuren an uns vorübergeht“, sagt Sepp Hofer und übt sich in Zweckoptimismus. Heute, Dienstag, werde sich Aiwanger erklären. „Und wenn er erhobenen Hauptes aus der Angelegenheit herauskommt, dann kann das auch in die andere Richtung ausschlagen.“
Das steht in den Sternen. Ebenso wie Aiwangers nächster Besuch in der Region. Am Donnerstag, 31. August, soll er als bayerischer Wirtschaftsminister den Aschauer Markt eröffnen. Eigentlich. Kann aber auch sein, dass die Wogen noch immer viel zu hoch für eine sichere Fahrt in den Chiemgau schlagen.