Rosenheim – Es war in den frühen Morgenstunden eines kalten Februartages im Jahr 2022. Noch vor Sonnenaufgang hämmerten Polizisten gegen eine Wohnungstür an der Klepperstraße. Nicht mit den Fäusten, sondern mit einer Ramme: Der Mann, ein mutmaßlicher Reichsbürger, der ein Hetz-Netzwerk über Messengerdienste organisiert hatte, sollte überrascht werden.
Der Streich der Polizei gelang, der Mann wurde von den Polizisten aus dem Schlaf aufgeschreckt, etwa zwei Terabyte Datenmaterial konnten gesichert werden. Daten, die eine brisante Einschätzung der Polizei und des Verfassungsschutzes gestützt haben könnten: Das südliche Oberbayern ist ein Hort der Reichsbürger. Und Rosenheim ist ein Knotenpunkt der Szene.
Rund 800 Reichsbürger
in der Region
Zu diesem Ergebnis kommt der bayerische Verfassungsschutz auch in seinem Halbjahresbericht 2023. Im Raum Rosenheim beobachte das Landesamt im Bereich Reichsbürger und „Selbstverwalter“ größtenteils Einzelpersonen, teilte ein Sprecher auf Anfrage mit. Auf die „verhältnismäßig hohe Zahl“ von 800 Reichsbürgern kommt Manfred Hauser, Chef des Polizeipräsidiums Oberbayern Süd, für seinen Dienstbereich.
Sie treten zumeist durch „niederschwellige reichsbürgertypische Aktivitäten“ in Erscheinung. Dazu zählt das Landesamt für Verfassungsschutz den Gebrauch von fiktiven Ausweisdokumenten – darunter Führerscheine und Ausweise bestimmter Reichsbürgergruppierungen – sowie den Versand von szenetypischen Musterschreiben. Darunter dürften auch die bizarren Schreiben fallen, die der angebliche Träger einer Reichsbürgerschule in Deutelhausen ans OVB richtete – mit Zahlungsaufforderungen in fantastischer Höhe.
Die Schule tauchte 2022 noch im Verfassungsschutz auf. Mittlerweile ist es um Träger wie Schule still geworden. Die Ermittlungen gegen die designierte „Schulleiterin“, eine verbeamtete Grundschullehrerin, liefen noch, hieß es auch bald zwei Jahre nach der Schließung der Schule seitens der Landesanwaltschaft. Mittlerweile stünden die Nachforschungen aber kurz vor dem Abschluss.
Spektakulär waren die deutschlandweiten Razzien gegen die Reichsbürgerszene zwischen Dezember 2022 und März 2023. Unter den Möchtegern-Putschisten befindet sich der ehemalige Bundeswehr-Oberst Maximilian E. Er pflegte enge Verbindungen in die Querdenker-Szene in der Region Rosenheim. Mit Andreas O. als Galionsfigur. Der Oberfeldwebel aus dem Landkreis Rosenheim, der sich während der Corona-Pandemie radikalisiert hatte, rief bei diversen Gelegenheiten zum Widerstand gegen den Staat auf. In Videos an der Seite von Maximilian E. gab O. Einblicke in seine Geisteswelt.
Dem Soldaten wurde unter anderem das Tragen der Uniform verboten. Mittlerweile, so teilte die Gebirgsjägerbrigade 23 dem OVB jüngst mit, sei Andreas O. „kein Angehöriger der Bundeswehr“ mehr. Zu weiteren „Einzelpersonenmaßnahmen“ könne man sich nicht äußern, sagte Presseoffizier Hauptmann Thomas Schmaus.
Hells Angels
auf Tauchstation?
Nicht äußern kann sich der bayerische Verfassungsschutz aktuell über die Hells Angels. Die waren in Rosenheim mal stark vertreten, scheiterten in Tuntenhausen nur knapp an der Einrichtung eines Hauptquartiers. Doch die Polizei war den Rockern immer hart auf den Fersen. Im März 2022 war ein früherer Präsident des laut Verfassungsschutz „mittlerweile aufgelösten“ Chapters in Rosenheim vom Landgericht Frankfurt wegen Zuhälterei und schwerer Zwangsprostitution zu einer Freiheitsstrafe von über zehn Jahren verurteilt worden.
Zuvor war schon der Vorgänger hinter Gitter gewandert. Es gebe nichts, was man über das bisher Berichtete sagen könne oder wolle, so ist eine aktuelle Antwort der Behörde auf Anfragen des OVB zu verstehen. Verkünden könne man zumindest keine „presseoffenen Erkenntnisse“. So zurückhaltend äußert sich die Behörde unter anderem auch dann, wenn ihr Resultate nachrichtendienstlicher Methoden vorliegen.
Symptom der sich verschärfenden Gegensätze in der Gesellschaft könnten die Aktivitäten der vom Verfassungsschutz häufig aufgeführten linksextremen Rosenheimer Szene sein. Schlagzeilen schrieb die Antifa-Demo gegen das AfD-Büro am 28. Januar in Rosenheim. An der Kaiserstraße wurden aus der Versammlung heraus Rauchkerzen gezündet. Polizeibeamte erlitten Augenreizungen durch Schaum aus Feuerlöschern. Auf das Gebäude der Rosenheimer Polizei an der Kaiserstraße wurden Farbbeutel geworfen und die Fassaden beschädigt. Wie die Staatsanwaltschaft und schließlich die Gerichte das Ganze einordnen, lässt sich noch nicht sagen. Sicher ist jedoch: Den Schaden in niedriger vierstelliger Höhe will die Polizei zivilrechtlich von der Veranstalterin, einer Frau aus München, einklagen.
Polizei spricht von
„krassem Material“
Die AfD wiederum erstattete wiederholt Anzeigen wegen Farbbeutel-Anschlägen gegen ihr Bürgerbüro. Für die „Alternative“ selbst interessiert sich aber auch weiterhin der Verfassungsschutz. „Die innere Zerrissenheit der AfD als Gesamtpartei und Flügelkämpfe, beziehungsweise eine Annäherung an extremistische Gruppierungen, machen eine Beobachtung der AfD als Gesamtpartei durch den Verfassungsschutz erforderlich“, heißt es in der Antwort auf die OVB-Anfrage.
Derweil harrt die Angelegenheit des Rosenheimer Reichsbürgers der Aufklärung – und mit ihm wohl eine ganze Szene. Die Auswertung von Datenträgern und Chat-Verläufen ergab zwei Terabyte „krasses Material“, so fasst es die Polizei zusammen. Darunter „wüsteste Holocaustleugnung“.
In der Telegramgruppe waren rund 1000 Menschen überwiegend aus Bayern und Tirol vernetzt – ein Hinweis darauf, wie Neue Medien zum Austausch von Parolen und Verschwörungstheorien verwendet werden. Näheres dazu dürfte noch heuer an die Öffentlichkeit gelangen. Voraussichtlich „in den nächsten Wochen“ sei die Auswertung der Datenträger abgeschlossen, heißt es seitens der Staatsanwaltschaft Traunstein.