Aschau – Vor einem Jahr, am 3. Oktober 2022, fiel Hanna (23) in ihrem Heimatort Aschau einem Gewaltverbrechen zum Opfer. In wenigen Tagen, ab dem 12. Oktober 2023, muss sich deswegen ein junger Mann aus dem südlichen Landkreis vor dem Landgericht in Traunstein verantworten – wegen Mordes. Chronologie eines Falles, der die Menschen weit über die Grenzen des Landkreises hinaus aufwühlte und die Polizei an Grenzen brachte.
3. Oktober 2022: Am frühen Nachmittag dieses Montags, es ist der Tag der Deutschen Einheit, entdeckt ein Spaziergänger auf der Höhe von Kaltenbach, einem Ortsteil der Marktgemeinde Prien, einen leblosen Körper in der Hochwasser führenden Prien. Wie sich herausstellt, handelt es sich um Hanna W.
Die 23-Jährige hatte in der Nacht auf Montag den Musikclub „Eiskeller“ in ihrem Wohnort Aschau im Chiemgau besucht und den Club in den frühen Morgenstunden des Montags, gegen 2.30 Uhr, verlassen. Wie Bilder der Überwachungskamera am Eingang zeigen, war sie alleine.
Die Frage, was zwischen diesen Aufnahmen und dem schrecklichen Fund geschehen ist, wird die Vermittler die nächsten Monate beschäftigen. Noch am Abend des 3. Oktober wird die Leiche obduziert.
4. Oktober 2022: Die Soko „Club“ wird eingerichtet. Die Leitung übernimmt Hans-Peter Butz. Und die Polizei meldet, dass „eindeutige Spuren äußerer Gewalteinwirkung“ festgestellt worden seien, die auf ein Tötungsdelikt schließen lassen.
6. Oktober 2022: Taucher der Bereitschaftspolizei Dachau suchen in der Prien nach Spuren und finden Hannas Lederjacke. Die Polizei durchforscht auch Videomaterial: Die Überwachungskameras des Clubs „Eiskeller“ liefern rund 100 Gigabyte. Zudem stellen „Eiskeller“-Besucher Fotos und Clips aus der Tatnacht zur Verfügung. Die Polizei hat dazu ein Upload-Portal eingerichtet.
7. Oktober 2022: Die Soko „Club“ zieht die Operative Fallanalyse um den bundesweit bekannten Fallanalytiker Alexander Horn hinzu. Auch per Hubschrauber wird nach Spuren gesucht.
Polizei
betritt Neuland
11. Oktober 2022: Die Polizei ist nun nicht nur mit Dutzenden Ermittlern, sondern auch mit einem Infomobil in Aschau vertreten. Neuland für das Polizeipräsidium Oberbayern Süd. Währenddessen laufen Vernehmungen von Zeugen. Es wird ein mühsames Puzzle werden. Denn in der fraglichen Nacht auf den 3. Oktober haben bis zu 700 Menschen den Club „Eiskeller“ besucht. Wer von ihnen kann Details zur Lösung des Falls beitragen?
12. Oktober 2022: Dutzende Beamte suchen die Umgebung des Clubs „Eiskeller“ unterhalb der Burg Hohenaschau und das Gebiet rund um den Kampenwandbahn-Parkplatz ab. Im Bärbach, der entlang des Parkplatzes verläuft, findet sich der Ring, den Hanna in der fraglichen Nacht getragen hatte. Nicht weit davon entfernt fördern Beamte der Bereitschaftspolizei Dachau eine auffällige Uhr der Marke „Holzkern“ zutage. Gehörte sie dem Täter? Diese Frage beschäftigt die Polizei die nächsten acht Monate.
Abend wird
rekonstruiert
17. Oktober 2022: Die Polizei spricht von mittlerweile 500 Gigabyte Bild- und Videomaterial, die sie auswerten muss. Es zeichnet sich ab, dass weit über 500 Gäste den „Eiskeller“ besucht haben. Mit möglichst vielen will die Polizei reden. Es gilt, einen Abend zu rekonstruieren, und damit einen unfassbaren Fall zu klären.
19. Oktober 2022: Die Polizei sucht per Zeugenaufruf einen Jogger, der in der Tatnacht gesichtet worden ist.
21. Oktober 2022: Der Jogger wird ermittelt und befragt, liefert jedoch keinerlei sachdienliche Hinweise.
9. November 2022: „Aktenzeichen XY …ungelöst“ befasst sich mit dem Fall Hanna. Soko-Chef Hans-Peter Butz tritt mit Details vor die Kameras. 50 Hinweise gehen während der Sendung ein, Dutzende weitere in den Tagen danach.
17. November: Der Hellseher Michael Schneider kündigt an, den Fall Hanna lösen zu können. Bereits bei der Ausstrahlung von „Aktenzeichen“ hatte er sich gemeldet. Die Polizei kommt aber aus eigenen Anstrengungen zum Fahndungserfolg. Sie meldet tags darauf die Festnahme eines dringend Tatverdächtigen. Es ist der Jogger, der knapp einen Monat zuvor als Zeuge befragt worden war. Laut Behörde ist er zwischen 18 und 21 Jahre alt und stammt aus dem „südlichen Landkreis“. Seine Wohnung ist durchsucht worden. Am Abend des selben Tages wird er auf Antrag der Staatsanwaltschaft einem Ermittlungsrichter vorgeführt. Der ordnet Untersuchungshaft an. Der beschuldigte Heranwachsende habe sich nicht zum Tatvorwurf und zu seiner Person geäußert, sagt der Verteidiger, der Rosenheimer Star-Anwalt Harald Baumgärtl.
3. Dezember 2022: Harald Baumgärtl gibt einen ersten Überblick aus seiner Sicht: „Es liegen bisher nur Indizien vor.“
10. Dezember 2022: Die Polizei forscht auch lange nach der Festnahme weiter mit Hochdruck nach Hinweisen, um den Abend zu rekonstruieren. Allein an diesem ersten Sondervernehmungstag in der Polizeiinspektion Prien vernimmt die Polizei Dutzende „Eiskeller“-Gäste, die gebeten wurden, in den Klamotten zu erscheinen, die sie in der Nacht auf den 3. Oktober getragen hatten. Am Ende wird die Polizei weit über 1000 Zeugenaussagen zu Protokoll genommen haben. Und Sprecher Stefan Sonntag kann melden, dass die Polizei nichts unversucht gelassen habe, Licht in den Fall zu bringen.
3. März 2023: Die Polizei ermittelt den Eigentümer der Holzkern-Uhr, die im Bärbach gefunden worden war. Es handelt sich um einen 32-Jährigen aus Baden-Württemberg, der in keinerlei Verbindung zu dem Fall steht.
20000 Seiten
Anklageschrift
17. April 2023: Die Polizei hat den wesentlichen Teil der Ermittlungen abgeschlossen, die Unterlagen werden zu Oberstaatsanwalt Gunter Scharbert in Rosenheim transportiert. Es handelt sich um rund 20000 Seiten.
11. Mai 2023: Der Staatsanwalt erhebt Anklage gegen den inhaftierten Verdächtigen. Die Anklage lautet auf Mord, als Motiv hält der Ankläger „Heimtücke“ fest.
28. Mai 2023: Eine Spaziergängerin findet in der Prien noch im Gemeindegebiet von Aschau ein mit Algen bewachsenes Handy. Es ist das lang gesuchte Mobiltelefon von Hanna. Die Forensiker der Polizei nehmen sich das Gerät vor, checken, ob trotz des monatelangen Liegens im Wasser noch Daten zu retten sind.
Ob sie dabei Erfolg hatten, und was diese Daten für die Ermittler bedeuten könnten: Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht hüllen sich in Schweigen.
Der Prozess am Landgericht Traunstein wird zeigen, ob das Handy noch etwas von Beweiskraft mitzuteilen hatte.
28. Juni 2023: Das Landgericht Traunstein lässt die Anklage im „Eiskeller-Fall“ zu und gibt den Termin für die Verhandlung bekannt: Der Prozess beginnt am 12. Oktober 2023. Der Beschuldigte sitzt in U-Haft.