Maitenbeth – Über 57 Jahre hat er geschwiegen, über 57 Jahre lang hütete Peter Ernst aus Maitenbeth ein Geheimnis, das er tief in sich vergraben, in „eine Schublade gesteckt“ und nie wieder herausgeholt hat: Als Bub habe Pfarrer Ludwig Axenböck ihn sexuell missbraucht. Nach all dieser Zeit hat sich der 64-Jährige nun dazu entschieden, sein Schweigen zu brechen – auch um anderen Betroffenen Mut zu machen.
Im Juli dieses Jahres hatte Ernst den Aushang an der Pfarrkirche St. Agatha gesehen. Darin gab die Erzdiözese München-Freising bekannt, dass es Hinweise auf sexuellen Missbrauch durch Pfarrer Axenböck geben würde. Die Institution rief alle Betroffenen dazu auf, sich zu melden. Das tat Ernst – zum ersten Mal in seinem Leben.
Er ging auf die Ansprechpersonen für Verdachtsfälle von sexuellem Missbrauch der Erzdiözese zu. Niemand wusste bis dahin von dem schrecklichen Erlebnis, weder seine Eltern, noch seine Frau oder seine beiden Töchter. Niemand. „Es war eine Befreiung, es auszusprechen“, weiß Ernst noch gut. Auch seinen Töchtern schenkte er reinen Wein ein. „Sie waren natürlich schockiert, haben mich aber darin bestärkt, an die Öffentlichkeit zu gehen“, sagt er.
„Niemand wagte,
etwas zu sagen“
Ernst war sieben Jahre alt – in der zweiten Klasse – als der sexuelle Missbrauch durch den Geistlichen anfing, berichtet er. „Ich war auch Ministrant, sehr gerne sogar. Ich denke, wir waren sein hauptsächliches Ziel“, meint der Rentner. „Kirche und Gottesdienst hatten damals auch noch einen ganz anderen Stellenwert. Pfarrer Axenböck war eine Obrigkeit, niemals hätte es jemand gewagt, das Wort gegen ihn zu erheben“, erinnert sich Ernst.
Ob damals auch bekannt gewesen sei, dass der Pfarrer sich an Kindern vergangen haben soll, wisse er nicht. Doch Ernst habe von einem Fall „vor seiner Zeit“ gehört: „Fünf Ministranten haben beinahe zeitgleich das Amt hingeworfen. Das muss den Leuten doch verdächtig erschienen sein“, nimmt der 64-Jährige an. „Deswegen wusste ich auch, dass ich nicht der einzige Betroffene sein kann. Aber wie gesagt, niemand hätte es gewagt, etwas zu sagen. Keiner wollte der Erste sein, der den Pfarrer anklagt“, meint er. Erst als Ernst nach der fünften Klasse aufs Gymnasium nach Wasserburg gewechselt sei, habe der sexuelle Missbrauch aufgehört. Die Erinnerungen daran „steckte ich in eine Schublade, ganz nach hinten“, beschreibt er. „Und diese habe ich zugemacht. Sie ist zwar immer da, aber ich habe nie hineingeschaut“, erklärt er.
So lebte Ernst mit diesem Geheimnis einfach weiter, mehr noch: Er legte nach dem Abitur in Wasserburg eine beeindruckende Karriere als Berufspilot hin. Bis er 41 Jahre alt war, flog er bei der Bundeswehr das Jagdflugzeug F-4-Phantom und wurde als Oberstleutnant entlassen. Danach wechselte er zu einer Fluggesellschaft und bereiste beinahe die ganze Welt: von Kapstadt über Mauritius, Amerika und der Karibik. Nachdem er seinen Tauchschein gemacht hatte, erforschte er die Unterwasserwelten der Malediven. Besonders beeindruckt habe ihn allerdings Alaska. „Die unberührte Natur und diese Weite, das ist schon gigantisch“, sagt er.
Ernst will einen
Schlussstrich ziehen
Mit 60 Jahren ging er als Flugkapitän in den Ruhestand, lebt seitdem ein gemütliches Leben mit Haus, Garten und Katze. Nachdem Helmut Bader aus Maitenbeth, ein Klassenkamerad, der ebenfalls von dem Pfarrer sexuell missbraucht worden war, mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit ging, fasste der 64-Jährige den Mut, es ihm gleichzutun. Er will einen „Schlussstrich ziehen“. Für Ernst ist das Bekanntwerden der Taten im Nachhinein eine „Art von Gerechtigkeit“, die ihm widerfahren würde, mehr noch: Der Geistliche sei nun als pädophiler Sexualstraftäter enttarnt, findet er. „Ich habe nichts falsch gemacht“, sagt er.
Auch das Schild „Pfarrer-Axenböck-Straße“ habe ihn immer gestört. Jahrelang ging er auf dem Weg zum Bäcker daran vorbei. Es hätte ihn jedes Mal an den Geistlichen erinnert.
Auf Bestreben der Betroffenen und des Pfarrgemeinderats wurde das Schild Ende September abgenommen. Darüber zeigt Ernst sich „sehr erleichtert“. Er habe grundsätzlich das Gefühl, dass sich die Stimmung in Maitenbeth gegenüber dem Pfarrer stark verändert hat.
„Es hieß immer, er habe so viel für die Gemeinschaft getan. Davon ist kaum mehr die Rede, seitdem bekannt ist, was er Heranwachsenden und Ministranten angetan hat. Das kann man auch nicht gegeneinander aufrechnen“, sagt Ernst. „Der sexuelle Missbrauch an uns wird dadurch nicht wettgemacht.“
Persönliches Gespräch
auf Augenhöhe
Beim „Zweiten Tag der Begegnung“, zu dem Kardinal Reinhard Marx Betroffene von sexuellem Missbrauch durch Mitarbeitende der Erzdiözese München und Freising am 28. Oktober nach Prien eingeladen hatte, war auch Peter Ernst dabei. „Erstaunlich viele“ hätten daran teilgenommen, berichtet er. Laut Erzdiözese waren über 30 Personen anwesend. Alle Beteiligten konnten „ungezwungen und offen“ miteinander sprechen, so Ernst. „Ich habe die Veranstaltung als sehr positiv gefunden. Wir Betroffenen sitzen alle im selben Boot“, beschreibt er die Gefühlslage beim Treffen. Auch das persönliche Gespräch mit Kardinal Marx fand laut dem 64-Jährigen „auf Augenhöhe“ statt. Der Geistliche hätte sich „sichtlich betroffen“ gezeigt.