Rosenheims Rolle bei Hitlers Putsch

von Redaktion

Inflation, Ruhrkampf, Unruhen: Im Jahr 1923 steht Deutschland vor dem Chaos. In München wagt Hitler den Umsturz – und scheitert beim Marsch auf die Feldherrnhalle. Doch auch Rosenheim hatte eine besondere Bedeutung beim Hitler-Putsch.

Rosenheim — Tabakqualm treibt träge durch den großen Saal des Bürgerbräukellers. In Bierlachen auf den runden Tischen spiegelt sich wie ein Kranz von Sternen das Licht der Deckenleuchter. Menschen unterhalten sich in gedämpftem Ton. Andere haben Stühle zusammengeschoben und schlafen auf der notdürftigen Unterlage. Der Putsch hatte so gut begonnen. Doch nun scheint alles verloren. Dem Rausch folgt der Kater. Was nun?

„Nach Rosenheim“, sagt ein hochgewachsener Mann mit buschigen Augenbrauen. Hermann Kriebel. Er ist der militärische Planer des Umsturzes, dieses Marsches auf Berlin, der nun, mitten in der Nacht auf den 9. November 1923, schon am Gasteig in München zu scheitern droht. Adolf Hitler ist der politische Anführer, Kriebel der militärische. Ein Mann an der Nahtstelle zwischen rechtsextremen Einwohnerwehren und der Reichswehr. Kriebel denkt an eine Militärdiktatur, Hitler soll nur der Trommler sein. Der habe eh nur „seine Propaganda im Kopf“.

Adolf Hitler geht
vor wie ein Gangster

Im Augenblick hat Hitler vor allem Anflüge von Panik. Also Rosenheim! Da denkt Hermann Kriebel ganz wie der Militär, der er ist. Der ehemalige Stabsoffizier stellt sich ein Ausweichmanöver vor. Dorthin, wo sich in diesem Augenblick Bewaffnete für den Kampf um München sammeln. Er kennt die Gegend: Nicht viel weiter, mitten in Aschau im Chiemgau, besitzt die Familie Kriebel ein Anwesen.

Stunden zuvor, am Abend des 8. November, haben sich im Bürgerbräu Szenen wie aus einem Gangsterfilm abgespielt. Gustav von Kahr, als Generalstaatskommissar der starke Mann Bayerns, hält eine Rede. Da stürmt Adolf Hitler an der Spitze eines Trupps von SA und Freikorps-Leuten in den Saal, schießt mit einer Pistole in die Decke und ruft die „Nationale Revolution“ aus. Das spricht sich bis nach Rosenheim herum. „Die nationale Reichsdiktatur in München aufgerichtet“, titelt der Rosenheimer Anzeiger in der Ausgabe vom 9. November.

Umsturzpläne hegen auch von Kahr und seine Mitstreiter, Polizeichef Seisser und der bayerische Reichswehr-Kommandant Lossow. Hitler weiß das. Er will nun die Zögernden zur Tat zwingen. Staatsspitze, Polizei, Reichswehr: Mit diesem Triumvirat wäre der Erfolg sicher.

Doch die drei wollen nicht recht, nicht jetzt und nicht auf diese Art. Hitler führt sie in ein Hinterzimmer. Mit vorgehaltener Waffe und dem Kriegshelden von Ludendorff an seiner Seite nötigt Hitler sie zum Mitmachen. Scheinbar erfolgreich. Kahr, Lossow und Seisser lenken ein. Hitler verkündet die Botschaft im Saal, Hunderte fallen einander freudig um den Hals. Hitler schlägt vor, das Deutschland-Lied an zustimmen. Viele können vor lauter Ergriffenheit gar nicht mitsingen.

Doch Hitler muss kurz weg. Die Revolution stockt. Man will nach Berlin, bekommt aber nicht mal München unter Kontrolle. Reichswehr-Soldaten, die überraschend doch nicht mittun wollen, machen Anstalten, sich zu wehren. Nun braucht Hitler das Triumvirat. Doch als er zum Bürgerbräukeller zurückkommt, sind seine Trümpfe weg: Kahr, Lossow, Seisser. Ludendorff hat sie treuherzig ihrer Wege ziehen lassen – auf Offiziersehrenwort. Jetzt ist der Putsch vorm Scheitern.

Mit seinem Rosenheimplan kommt Kriebel aber nicht durch. Weltkriegsheld Ludendorff, Kriebels einstiger Vorgesetzter, schlägt einen Marsch in Münchens Mitte vor. 2000 Mann setzen sich in Bewegung. In der ersten Reihe: Hitler, mit Kriebel und ein paar anderen an seiner Seite. Den Zug säumen Tausende. „Wir zogen dann weiter durch die Stadt, überall begrüßt, mit Jubel begrüßt“, erinnert sich Kriebel später.

Man marschiert über die Ludwigbrücke, durchs Tal, zum Marienplatz. An der Feldherrnhalle versperrt die Landespolizei den Weg. Wer den ersten Schuss abfeuert, wird nie geklärt. Die folgende Schießerei ist wüst und kurz. Vier Polizisten und 13 Putschisten sterben, dazu ein Unbeteiligter. Hitler wird leicht verletzt, entkommt und wird zwei Tage später verhaftet.

Paramilitärs sammeln
sich in Rosenheim

Rosenheim ist 1923 bereits eine Hochburg der Nationalsozialisten. Am 18. April 1920 ist dort die erste NSDAP-Ortsgruppe außerhalb Münchens gegründet worden. Hitler spricht bis Ende 1920 achtmal in Rosenheim. Bald zählt die Partei dort 260 Mitglieder.

In Rosenheim genießt Hitler also durchaus Rückhalt. Dementsprechend groß ist die Anspannung im November 1923. Es herrsche „nervöse Stimmung“, meldet das Rosenheimer Bezirksamt nach München. Schnell sammeln sich Bewaffnete im „Regiment Chiemgau“. 3000 bis 5000 Mann soll es am 9. November zählen. Viele von ihnen haben zweierlei gemeinsam: Kampferfahrung aus dem Weltkrieg und Verachtung der Demokratie. Gerüchte über einen bevorstehenden Marsch auf Berlin köcheln seit Wochen. Nun brennen sie darauf, von Bayern aus der Hauptstadt Mores zu lehren.

Wenn man nur wüsste, was in München los ist. NS-Anhänger haben in Rosenheim das Telegrafenamt besetzt. Belastbare Informationen kommen aber nicht, nur Gerüchte. Grund: Es besteht Telefonsperre. Es solle „Gegensätze“ zwischen Kahr und Hitler geben, berichtet der Rosenheimer Anzeiger immerhin noch am 9. November. Am nächsten Tag titelt der Anzeiger: „Es bleibt bei Kahr“.

Erst am 10. November verbreiten sich in Rosenheim also die Berichte über das Scheitern des Putsches. Die Chiemgau-Leute sind enttäuscht. Auf der Loretowiese hält der Regimentskommandeur eine Ansprache, beruhigt die Bewaffneten. Der Haufen verläuft sich irgendwann. Anders Nazis in der Stadt: Sie setzen jüdische Rosenheimer fest. Andere Rosenheimer NS-Anhänger haben sich auf den Weg nach München aufgemacht. Als sie auf flüchtende Putschisten treffen, entscheiden sie sich zur Umkehr.

Die Kontrolle hat nun mit offizieller Billigung der „Bund Bayern und Reich“, der zu Kahr und Staatsregierung hält. Was nicht bedeutet, dass er sich von den Hitleranhängern distanziert. Bei Kolbermoor werden die Lastwagen flüchtender Nazis gestoppt, die weiter Richtung Rosenheim wollen. Sie werden in der Turnhalle des Gymnasiums festgesetzt. Doch die Hitler-Leute werden in „kameradschaftlicher Weise vom ,Bund Bayern und Reich‘ aus Mitleid und vaterländischem Empfinden verpflegt“, wie es in einem Bericht des Regierungspräsidiums von Oberbayern heißt.

Hitler ist am Ende. Hitler ist am Anfang. Partei, SA und der fanatische „Bund Oberland“ werden verboten. Sie werden aber nicht ausgelöscht. In Rosenheim kriechen die Nazis stillschweigend beim „Bund Bayern und Reich“ unter.

Hitler wiederum findet im Hochverratsprozess eine Bühne für Hetzreden und Propaganda. Der Richter ist wohlwollend und hält den Angeklagten vaterländische Gesinnung zugute. Ludendorff wird freigesprochen. Die andern Angeklagten, auch Hermann Kriebel, kommen mit lächerlich niedrigen Haftstrafen davon. Noch 1924 kommt Hitler wieder frei. Von nun an wird er sich zum Schein an Spielregeln halten. Nicht mal zehn Jahre nach dem Debakel ist er am Ziel.

Kriebel-Grab sorgte in
Aschau für Unfrieden

Hermann Kriebel hat mit Hitler die Festungshaft geteilt. Karriere aber macht er nicht. Im Auswärtigen Amt erhält er einen Job, aber keinen Einfluss. Spät wird er zum Oberst befördert und zum Botschafter ernannt. Im Februar 1941 stirbt er im Alter von 65 Jahren. Hitler ehrt ihn mit einem Staatsakt in München. Beigesetzt wird Kriebel in Niederaschau, unter einem Grabstein, an dem bis jüngst der Ungeist des NS-Regimes spukte: Auf einem bronzenen Stahlhelm prangte ein Hakenkreuz. Erst im Juni 2023 wurde es entfernt.

Quellen:

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