Rosenheim/Mühldorf – Kinder trauern anders. Wie in Pfützen springen sie in die Trauer hinein und wieder heraus. Johannes (7) macht das gerade. Sein Vater ist tot – ein Surfunfall. Mitten in der Kerzenrunde schlägt der Bub einen Purzelbaum nach hinten – und damit ist er „raus“.
Mit der Rolle rückwärts setzt Johannes ein Signal: Es ist genug! Er mag jetzt nicht mehr über seinen toten Papa reden oder Julia (6) zuhören, die ihre Mama verloren hat – eine Krebserkrankung. Dr. Beate Düntsch-Hermann versteht ihn und wirft Johannes einen verständnisvollen Blick zu.
Jetzt kann es sich der Bub aussuchen: relaxen im Ruheraum, malen im Kreativraum – oder in zweiter Reihe sitzen bleiben und später mit einer beherzten Vorwärtsrolle erneut ins Geschehen eintauchen. Das kann jeden Augenblick passieren. „Trauernde Kinder sind jetzt traurig – und im nächsten Moment fröhlich“, sagt Düntsch-Hermann.
Erst die tote Mama – und dann ein Eis
Anders als Erwachsene haben Kinder beim Trauern keine Tagesform. Erst wollen sie wissen, welche Lieblingsfarbe ihre tote Mama hatte. Dann wollen sie ein Eis. Und sie müssen lernen, dass es ein bisschen Tod nicht gibt. Für kleine Kinder ist der Tod etwas Abstraktes, nicht Endgültiges. Erst mit etwa zehn Jahren begreifen sie, dass der Tod unumkehrbar ist und auch ihr Leben irgendwann einmal endet.
Das muss die Kinderkerzenrunde mit Julia, Johannes und einer Handvoll weiterer Kinder, die längst ein festes Ritual ist bei Lacrima für trauernde Kinder, erst noch lernen. Die Buben und Mädchen haben die größten Familientragödien hinter sich, die man sich nur vorstellen kann: den Tod der Eltern, des kleinen Bruders oder der großen Schwester.
Zu erkennen, wie es jedem Kind gegenwärtig geht, was es gerade braucht – das ist die Stärke von Beate Düntsch-Hermann und fünf weiteren erfahrenen Trauerbegleiterinnen. Die promovierte Medizinerin hat Lacrima vor zehn Jahren in Rosenheim gegründet und etabliert – und das alles unter dem Dach der Johanniter in Wasserburg, dem die Weihnachtsaktion „OVB-Leser zeigen Herz“ gewidmet ist. Vom Spendenprojekt, dem Bau des neuen Johanniter-Zentrums Oberbayern Südost, wird auch Lacrima enorm profitieren.
Die Begleitung, Betreuung und Unterstützung kindlicher Trauerarbeit bieten die Johanniter gratis an. Die Trauerbegleiterinnen – Petra Rudzki, Katharina Weidner, Inge Daxlberger und Lacrima-Leiterin Beate Düntsch-Hermann (Kinderteam) sowie Sabrina Tomm und Regina Binar (Jugendteam) – machen das ehrenamtlich.
Das lateinisch-italienische „Lacrima“ bedeutet „Träne“. Und dass Tränen kullern, ist wichtig. Doch sie kommen nicht immer von allein. „Kinder verbergen ihre Trauer oft hinter einer scheinbar unbeschwerten Oberfläche. Aber sie müssen ihre Trauer zeigen können, um nicht an Leib und Seele krank zu werden“, sagt die Lacrima-Leiterin.
Nach dem Schock kommt die Wut
Plötzlicher Unfall, tückische Krankheiten, Suizide: In zehn Jahren Lacrima-Trauerarbeit hatten es Kinder, verbliebene Elternteile und Betreuerinnen mit allen möglichen Familientragödien zu tun. Erst kommt immer der Schock. Dann die Wut – und auch sie in Schüben. Vor allem bei Suiziden lässt sie die Kinder oft für lange Zeit nicht los.
Genau so ist es bei Daniel (8) gewesen. Über ein Jahr lang hat er wie wild auf den Boxsack im Lacrima-Bewegungsraum eingedroschen. Dann bricht es plötzlich aus ihm heraus: „Du verdammter Idiot, warum hast du uns bloß in diesem Mist sitzen lassen?“ Daniels Papa hatte seine Firma an die Wand gefahren, sich das Leben genommen – und der Mama einen Schuldenberg hinterlassen.
Wut, Trauer, Hilflosigkeit, Existenzängste – im Spiel können Kinder Gefühle ausdrücken, für die sie womöglich noch keine Worte haben. Daniel haut auf den Boxsack ein, was die Fäuste hergeben. Andere Kinder rennen, was die Beine hergeben. Wieder andere machen einen Rückwärts-Purzelbaum, so wie Johannes.
Er hat sich eine Auszeit genommen und liegt jetzt im Entspannungsraum. Julia ist mitgekommen. 20 Minuten lang versinken die Blicke der beiden Kinder in den Flocken der LED-Lampe. Dann kommen sie wieder – mit einem klaren Plan. Sie wollen Bilderrahmen anmalen – in den Lieblingsfarben von Papa und Mama.
In kompetenteren und fürsorglicheren Händen wie bei Lacrima können sie dabei nicht sein. Jeden zweiten Montag trifft man sich für zwei Stunden im Familienzentrum Christkönig in Rosenheim.
Um dabei Vertraulichkeit zu schaffen, gibt es eine eiserne Regel: Alles bleibt im Raum – jedes Wort, jede Träne. Die trauernden Mamas und Papas erfahren davon nichts. Das ist wichtig für Kinder, sie wollen ja niemandem zu Last fallen, schon gar nicht dem verbliebenen Elternteil.
„Deshalb sind trauerfreie Räume wie Schule oder Sportverein so wichtig für die Kinder. Sie müssen raus von zu Hause, wo die Stimmung schlecht ist, damit sich Eltern und Kinder nicht gegenseitig in die Trauerarbeit blockieren, weil sie ständig die Fassade wahren“, so Düntsch-Hermann.
Schön sind sie geworden, die Bilderrahmen von Johannes und Julia. Für wen sie wohl sind? Das bleibt offen, denn es gibt eine zweite Lacrima-Regel: Keine Fragen an die Kinder – schon gar keine, die man mit Ja oder Nein beantworten kann. Auch die Farbe wird hier nicht verraten. Das bleibt im Raum.
Anmerkung: Zum Schutz der Kinder wurden die Namen geändert und die Biografien leicht verändert.
Überweisungsträger liegen heute bei
Überweisungsträger für die OVB-Weihnachtsaktion liegen dieser Ausgabe bei. Die Namen der Spender Seite 42