Die Verbrechensfelder verschieben sich

von Redaktion

Exklusiv-Interview Staatsanwalt Dr. Wolfgang Beckstein zur Sicherheitslage

Traunstein/Rosenheim – Bayern ist ein sicheres Bundesland – noch. Dr. Wolfgang Beckstein, Chef der Staatsanwaltschaft in Traunstein, schlägt Alarm. Warum Ganoven auch in der Region immer öfter davonkommen könnten, was er von der Politik erwartet und in welchem Bereich er die größten Probleme sieht, sagt er im OVB-Exklusiv-Gespräch.

Allenthalben hören wir vom Fachkräftemangel. Wie sieht’s denn bei Ihnen aus?

Die Justiz bekommt Gott sei Dank für die Staatsanwälte und Richter noch genügend Nachwuchskräfte. Ich glaube, die Justiz ist in Bayern für junge Juristen noch immer attraktiv. Trotzdem wird es schwieriger; die Leute werden wählerischer und wechseln auch mal in die Wirtschaft, wo man mehr zahlt. Auch, weil man als Staatsanwalt deutlich mehr arbeiten muss als in weiten Bereichen der freien Wirtschaft. Was uns hilft, sind Konzepte, welche die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern, die Sicherheit beim Staat und das super Gemeinschaftsgefühl. Und – der Job ist sehr interessant und abwechslungsreich. Für mich war und ist Staatsanwalt ein Traumjob!

Dann haben Sie ja genügend Leute, um Berge an Fällen zu bewältigen.

Das wäre sehr schön, ist aber leider ein unerfüllter Traum. Wir hätten Interessenten, uns fehlen aber Stellen. Das ist ein gesamtbayerisches Problem, und es hat sich verschärft, weil heuer alle Staatsanwaltschaften massive Zuwächse an Verfahren haben. Bayernweit circa 20 Prozent! Nach dem bundeseinheitlichen Personal-Bedarfsberechnungssystem fehlten letztes Jahr zum 30. September bayernweit 252 Stellen für Staatsanwälte. Seitdem hat der Landtag dankenswerterweise 50 neue Stellen geschaffen. Trotzdem hat sich die Lage durch die enormen Verfahrenszuwächse weiter verschärft. Zum Ende des September 2023 fehlen bayernweit 313 Staatsanwälte.

Was heißt das für Ihre Kollegen?

Unsere Staatsanwältinnen und Staatsanwälte müssen im Schnitt jeweils mehr als 64 Wochenstunden leisten, um die Arbeit zu bewältigen – ohne jeglichen Überstundenausgleich. Hinzu kommen Rund-um-die-Uhr-Bereitschaftsdienste mit vielen Anrufen nachts und am Wochenende, für die es weder einen finanziellen noch einen Freizeitausgleich gibt. Meines Erachtens sind das untragbare Zustände.

Das hört sich tatsächlich nicht nach Work-LifeBalance an.

Unsere Leute machen die zahllosen nicht erfassten und nicht ausgeglichenen Überstunden aufgrund ihres Berufsethos und aus Begeisterung. Weil niemand will, dass Mörder, Leute, die Kinder misshandeln oder missbrauchen, Räuber, Schockanrufer, Schleuser und andere Verbrecher frei herumlaufen. Wir haben echt tolle und engagierte Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in Traunstein und der Zweigstelle Rosenheim…

…die Löcher stopfen, die sich im Interesse der Sicherheit gar nicht erst auftun sollten.

Ja. Leider müssen wir aber bei der Verfolgung der kleineren und mittleren Kriminalität deutliche Abstriche machen. Wir stellen, was sehr unbefriedigend ist, in diesem Bereich viel mehr Ermittlungsverfahren ein als früher. Um die Arbeitslast bewältigen zu können, müssen wir uns auf die großen, schweren Fälle konzentrieren. Zu Recht schwindet das Verständnis dafür, wenn Verfahren mit Schäden von mehreren Hundert oder Tausend Euro einfach eingestellt werden. Also deutlich gesagt: Entweder werden die Staatsanwaltschaften massiv verstärkt, oder zigtausende Straftaten pro Jahr können in Bayern nicht mehr richtig verfolgt werden.

Wenn man innere Sicherheit will, reicht es nicht, nur Stellen für Polizisten zu schaffen – was ich sehr begrüße –, sondern man muss auch die Strafjustiz personell verstärken. Ich kann die Politik nur bitten, Bayerns Justizminister Georg Eisenreich bei Personalforderungen für die Staatsanwaltschaften zu unterstützen.

Es gibt auch mehr Felder des Verbrechens als früher. Welche Trends erkennen Sie?

Früher war der Anteil der Diebstahlsdelikte höher, das hat sich verlagert, in Richtung Betrug im Internet. Kinderpornografie hat durch die vermehrte Nutzung des Internets ebenfalls deutlich zugenommen. Auch das Thema Gewalt hat sich gewandelt, insbesondere im Bereich der Jugendkriminalität. Früher hat man geschlägert, aber wenn einer am Boden lag, war Schluss. Heutzutage sind oft Waffen und Gegenstände im Spiel. Oder es wird nachgetreten, wenn einer schon am Boden liegt.

In jüngster Zeit hörte man Beunruhigendes über Schleuser.

Das trifft zu. Wir hatten bis vor ein, zwei Jahren „normale“ Schleuser. Wenn die in eine Kontrolle kamen, dann hatten sie eben Pech. Dann wurden sie erwischt. Gerade in den letzten Wochen erlebten wir aber oft die Flucht vor der Polizei ohne Rücksicht auf Verluste. Die Schleuser rasen mit 150 durch Ortschaften und noch schneller auf der Autobahn. Wie bei dem gänzlich katastrophalen Fall bei Ampfing mit sieben Toten und zahlreichen Verletzten. Es gab auch schon Fälle, in denen Schleuser auf Polizeibeamte zugefahren sind oder Polizeiautos gerammt haben. Es ist ein reines Wunder, dass noch keine Polizeibeamten oder Menschen außerhalb von Schleuserfahrzeugen lebensbedrohlich zu Schaden gekommen sind.

Wie schaut die Entwicklung in Zahlen aus?

Heuer hatten wir von Januar bis Oktober 620 Verfahren wegen Schleusungen, etwa 350 lagen noch bei den beiden Bundespolizeiinspektionen Freilassing und Rosenheim für uns. Insgesamt sind es dann heuer von Januar bis Oktober 970 Schleuserverfahren. Im gleichen Zeitraum 2022 waren es 456 Verfahren, 2019 nur 226 Verfahren. Diese Steigerungen sind enorm! Allein im Bereich der Staatsanwaltschaft Traunstein bearbeiten wir etwa 27 Prozent aller bundesweiten Schleusungen.

Das bedeutet viel Arbeit fürs Traunsteiner Modell der internationalen Zusammenarbeit. Sie versuchen ja auch, an die Hinterleute zu kommen.

Richtig. Da haben wir sehr viel Arbeit. Wir haben auch Erfolge. Aber man muss ehrlich sein. Die gesamte Organisation zu zerschlagen, die ja oft schon in Afrika, in Afghanistan oder in Syrien beginnt, ist schwierig. Sie wissen ja zum Teil gar nicht, welchen Behörden sie in manchen Staaten trauen können oder wo korrupte Bedienstete mit den Verbrecherorganisationen zusammenarbeiten und diese vorwarnen. Wenn wir uns aber auf Deutschland und Österreich beschränken – an wen kommen wir dann ran? Nur an die ganz Kleinen.

Die Polizei warnt häufig vor Schockanrufen. Ist das wirklich so ein neues Phänomen?

Ja, die gab es früher nicht. Da greifen wir sehr hart durch, um ältere Menschen davor zu schützen, ihr Erspartes an organisierte Kriminelle zu verlieren. Wir haben bereits mehrfach Freiheitsstrafen von mehr als zehn Jahren erwirkt, so hoch wie sonst nirgends in Deutschland.

Ein jüngst heftig diskutiertes Gesetz könnte Ihnen darüber hinaus noch mehr Arbeit bescheren. Die Cannabis-Liberalisierung. Was halten Sie davon?

Meines Erachtens müsste das Gesetz anders heißen– nämlich: „Gesetz zur Förderung der Drogensucht Jugendlicher, zur Stärkung krimineller Organisationen und zur Steigerung ihrer Gewinne sowie zur Bürokratisierung und zur Lahmlegung aller damit befassten Behörden.“ Weil der Entwurf überbürokratisch, kontraproduktiv und undurchdacht ist. Rückwirkende Straffreiheitsregelungen führen dazu, dass wir längst abgeschlossene Verfahren erneut prüfen müssen. Wir werden aufgrund dieses Gesetzespakets über einen sehr langen Zeitraum deutlich mehr Arbeit bekommen. Außerdem ist zu erwarten, dass Jugendliche viel leichter an Drogen kommen werden.

Interview: Michael Weiser

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