„Weiterhin ein fürchterliches Gemetzel“

von Redaktion

Interview Dr. Jens Steinigen zur Jahresbilanz von Athletes for Ukraine

Siegsdorf – Er war Olympiasieger und zweifacher Weltcupsieger im Biathlon, aktiv von 1979 bis 1996, schaffte vor 25 Jahren den Absprung von der Loipe direkt ins Anwaltsbüro Lenze und Partner in Traunstein und hat sich mittlerweile auf Arbeitsrecht spezialisiert: Dr. Jens Steinigen. Der 57-jährige Siegsdorfer sorgt aber auch nach seiner sportlichen Karriere für Schlagzeilen, hatte er doch unmittelbar nach Kriegsausbruch in der Ukraine im März letzten Jahres den Verein Athletes for Ukraine (A4U) in Traunstein gegründet. Im Gespräch mit unserer Redaktion zieht der Familienvater Jahresbilanz.

Wie lief das Jahr 2023 für A4U?

Es ist inzwischen schwerer geworden, die Leute zu motivieren, als noch 2022. Trotzdem waren wir auch 2023 wieder erfolgreich. Mir war schon im März 2022 klar, dass der Krieg nicht so schnell enden wird. Die Ukrainerinnen und Ukrainer werden ihr Land nicht aufgeben und sich Russland unterwerfen, Russland wird nicht aufhören, bis es sein Ziel erreicht und die Ukraine vernichtet hat, es sei denn, es wird in seine Schranken verwiesen. Russland akzeptiert nur Stärke – Appeasement-Politik wird dort als Schwäche verstanden. Inzwischen geht Russland in diesem Krieg „all in“, hat auf Kriegswirtschaft umgestellt und wird dabei von den Schurkenstaaten dieser Welt unterstützt. Die bei uns verantwortlichen Politiker zögern, für einen Sieg der Ukraine dringend notwendige Waffenlieferungen kommen zögerlich, immer gerade so, dass es für die Ukraine zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel ist. So findet nach wie vor ein fürchterliches Gemetzel in der Ukraine statt. Man muss sich nun in Berlin endlich entscheiden: Soll dem internationalen Recht Geltung verschafft und die regelbasierte Weltordnung auch für künftige Generationen erhalten werden, oder soll künftig das Recht des Stärkeren maßgeblich sein?

Das sind schwere Vorwürfe.

Mag sein, aber ich bin in der DDR aufgewachsen und weiß, wovon ich rede. Alle, die jetzt für Russland hier bei uns in die Propagandaschlacht ziehen, vor allem auch in den östlichen Bundesländern, sollten sich nur einmal vorstellen, was 1989 angesichts von mehr als 300000 in der DDR stationierten russischen Soldaten mit den Protesten gegen das SED-Regime geschehen wäre, wenn Putin schon damals im Kreml geherrscht hätte.

Beim Jahresabschluss-Interview im letzten Jahr sagten Sie, der Protest von A4U müsse noch lauter werden. Ist er lauter geworden?

Wir haben viel erreicht, haben in unseren Bemühungen nicht nachgelassen. Ob unser Protest lauter geworden ist, kann ich nicht sagen. Wir haben dafür aber alles getan, was möglich war. Aber wir merken auch, dass die Spendenbereitschaft abnimmt. Ich denke jeden Tag darüber nach, wie wir noch mehr helfen und noch lauter werden können.

Aber innerhalb des Vereins ist die Hilfsbereitschaft doch nach wie vor groß.

Absolut! Als ich in unserer Whatsapp-Gruppe einen Aufruf startete, dass unser Lager in Siegsdorf wieder mal aufgeräumt werden muss, meldeten sich in kürzester Zeit genügend Helfer an. Das ist großartig und macht mich stolz! Wir benötigen ja nach wie vor haltbare Lebensmittel. Gefragt sind auch Hygieneprodukte wie Zahnpasta, Zahnbürsten, Seife, Shampoo, Feuchttücher, Windeln, Monatshygieneartikel, außerdem Haushaltsgegenstände in gutem Zustand, Isomatten, Decken und Thermoskannen. Wir fragen immer den aktuellen Bedarf bei unseren Helfern in der Ukraine ab und schicken dann die benötigten Sachen so schnell wie möglich.

Ihr habt 2022 einen Lkw gekauft, jetzt laufen schon drei Fahrzeuge unter A4U in der Ukraine.

Genauso ist es. Zusätzlich haben wir jetzt in der Ukraine einen Transporter und einen Jeep im Einsatz, um auch Front-nah operieren und dort besser unterstützen zu können. So kann auch Hilfe zu denen gebracht werden, die dort noch in den Städten und Dörfern ausharren. Denn da sind ja vor allem noch die alten und weniger mobilen Leute. Die können nicht einkaufen gehen und sind auf Hilfe angewiesen. Finanziert haben wir die Fahrzeuge über unseren Verein. Wir schicken die Hilfsgüter von Deutschland meist mit einer Spedition nach Charkiw. Die Fahrzeuge sind vom Lager in Charkiw aus im Einsatz und verteilen Hilfsgüter.

Und ihr arbeitet mit einer großen Spedition zusammen.

Richtig! Uns kostet dann ein großer Lkw mit 32 Paletten zwischen 2500 und 3000 Euro von Siegsdorf nach Charkiw. Günstiger geht das nicht. Momentan gibt es aber eine Lkw-Blockade an der polnisch-ukrainischen Grenze, was die Hilfe sehr schwierig macht.

Wie kommt ihr zu den Gegenständen, mit denen ihr vor Ort helft?

Natürlich kaufen wir Hilfsgüter von den Spendengeldern. Hier werden wir durch die Edeka-Großmärkte, vor allem auch den in Traunstein, und die Zentrale in Hamburg sehr unterstützt und können günstig einkaufen. Wir haben inzwischen aber auch ein großes Netzwerk für Sachspenden und arbeiten mit einer ganzen Reihe von Hilfsvereinen zusammen

Und ihr habt eure Fühler auch in die USA ausgestreckt.

Ja, das aktuelle Projekt setzen wir gerade mit Partnern in Deutschland, den USA und der Ukraine um. Hier wird von uns und United Help Ukraine medizinischer Bedarf von Krankenhäusern in der Ukraine ermittelt. Projekt C.U.R.E., einer der weltweit größten Verteiler von gespendeter medizinischer Ausrüstung und Vorräten, stellt den Bedarf in den USA zusammen, so dass wir diese Dinge im Wert von rund 400000 USD dann kostenlos aus den USA erhalten. Der Logistiker Flexport mit Expertise in medizinischer Logistik übernimmt dann den Transport in die Ukraine, wofür wir die Transportkosten übernehmen.

Wie geht es dem Verein A4U eigentlich finanziell?

Wir sind natürlich nach wie vor auf Spenden angewiesen, damit wir so weitermachen können. Es wurde schon viel gespendet. Aber wir sitzen nicht auf dem Geld, sondern setzen die Spenden 1:1 in Hilfe um. Die Not ist groß, vor allem jetzt in den kalten Monaten. Hilfe wird jetzt gebraucht und nicht irgendwann. Da haben wir mit unserem Netzwerk und kurzen Entscheidungswegen große Vorteile. Also, große Guthaben haben wir nicht. Zudem unterstützen wir auch ukrainische Sportler und Sportprojekte in der Ukraine.

Ist die Begeisterung dafür bei euren Weltklassesportlern, Olympiasiegern und Weltmeistern immer noch so da wie am Anfang?

Absolut! Fangen wir mal beim Biathlon an. Wolfgang Pichler kann ich immer anrufen, auch Philipp Nawrath engagiert sich stark und Denise Herrmann-Wick war einige Male dabei, auch Fritz Fischer steht immer bereit. Von den Rodlern sind Felix Loch und seine Gattin Lisa ein ganz großes Vorbild. Aber auch Diana Eitberger hilft mit, ebenso Tobi Angerer, Alexander und Thomas Huber, Markus Burkhardt oder Karen König, eine ehemalige Weltklasseschwimmerin aus Berlin, und viele viele mehr. Es ist schon großartig, zu sehen, was da geleistet wird und wie sich viele berühmte Persönlichkeiten bei uns engagieren.

Rodel-Olympiasieger Felix Loch war ja selbst bei Ukraine-Fahrten mit dabei. Sowas ist enorm hoch einzuschätzen.

Felix und Lisa sind aus unserem Team nicht wegzudenken. Was sie leisten, ist unfassbar. Ein kleines Beispiel aktuell: Sie organisierten den A4U-Nikolaus für das Waisenhaus in Oberau. Alle Kinder dort haben neue Mützen bekommen. Felix hat aus eigener Tasche 100 Stück gekauft. Alle tragen das A4U-Design. Sie werden entweder an Flüchtlinge verschenkt oder gegen eine Spende verkauft. Der Erlös geht zu 100 Prozent an A4U.

Bei den Olympischen Spielen in Paris werden 2024 russische Sportler gegen ukrainische und deutsche antreten?

Leider wird das mit großer Wahrscheinlichkeit so sein! Sogar der DOSB hat sich ja gerade für den Start russischer Athleten ausgesprochen. Für mich eine moralische Bankrotterklärung und völlig unverständlich. Wie kann man nur so tief sinken? Denn beim DOSB weiß man ganz genau, dass ein weiterer Ausschluss durchaus legitim ist, da nur so einer kriegspropagandistischen Instrumentalisierung der Olympischen Spiele durch Russland entgegengetreten und deeskalierend auf den Krieg eingewirkt werden kann. Das hat man sich beim DOSB ausdrücklich per Rechtsgutachten so bestätigen lassen. Nur mit einem weiteren Ausschluss kann das IOC also seinem Friedensauftrag gerecht werden. Und vor allem gibt es auch keine „neutralen“ russischen Sportler. Alle russischen Sportler, mal die Tennisspieler und Fußballer ausgenommen, sind beim russischen Staat, bei irgendeinem Ministerium angestellt. Medaillen werden gefeiert und Putin wird die Gewinner wieder feierlich ehren und dies wie in der Vergangenheit auch für die Kriegspropaganda nutzen. Man hat es ja 2022 nach Peking gesehen. 80000 waren im Moskauer Luschniki-Stadion und der Aggressor ließ sich mit den erfolgreichen Sportlern feiern, hat diese mit einem großen „Z“ auf der Brust auf die Bühne gestellt. Der deutsche Sport wird das nun auch noch unterstützen. Das ist unfassbar!

Interview Karlheinz Kas

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