Einmal Retter – immer Retter

von Redaktion

Ein neues Hilfsnetzwerk aufbauen – und das in Zeiten des völligen Stillstands: ein Ding der Unmöglichkeit? Nicht für die Johanniter. Nicht für Ralph Bernatzky, den Leiter der Krisenintervention, die 2020 mitten in der Corona-Krise gegründet worden ist.

Rosenheim/Mühldorf – Schon erstaunlich, was die Johanniter so alles anpacken, um Menschen zu helfen: Sie kommen, wenn ein Krankentransport ansteht – oder wenn Gesundheit und Leben auf dem Spiel stehen. Sie bleiben mit der Krisenintervention, wenn die Erstretter wieder weiter müssen. Und sie begleiten mit der Lacrima-Gruppe trauernde Kinder auch noch Monate nach dem Verlust ihrer Eltern. Man könnte das, in Anlehnung an den gängigen Begriff aus der Medizin, ganzheitliche Hilfe nennen – für Körper und Seele, im Alltag wie im Notfall.

Die Stunde der Krisenintervention schlägt, wenn Menschen mit potenziell stark belastenden Situationen umgehen müssen – oft Tragödien wie Autounfälle oder ein Zugunglück. Meist geht es darum, Angehörigen beizustehen. „Dass wir Johanniter inzwischen über ein Team von 23 Kolleginnen und Kollegen verfügen, 22 haben bereits erfolgreich den Fachlehrgang absolviert, das ist schon bemerkenswert“, sagt Bernatzky.

Der lange Weg zur
Krisenintervention

Von null auf 23 in drei Jahren – so eine rasante Entwicklung hätte der gelernte Kinderkrankenpfleger nicht für möglich gehalten. Zumal die Anfangszeit 2020 unter schwierigsten Bedingungen ablief: Der überwältigenden Resonanz – auf Anhieb meldeten sich 70 Leute, die sich für Psychosoziale Notfallversorgung, kurz PSNV, interessierten – stand das ganze Corona-Dilemma gegenüber: Kontaktverbote, Abstandsregeln, Hygienevorschriften, Schnelltestpflicht und so fort.

Dabei muss man wissen, dass PSNV ein weites Feld ist. Kriseninterventionshelfer wird man nicht im Handumdrehen – und schon gar nicht per Videokonferenz. 108 Unterrichtseinheiten und reichlich Praxiserfahrung sind erforderlich, sofern man überhaupt dafür geeignet ist. Es muss nicht gleich eine „Blaulichtkarriere“ sein, aber man sollte schon ein Stück Lebenserfahrung mitbringen, eine gefestigte Persönlichkeit sein, eine gesunde Selbstwahrnehmung haben, authentisch auftreten und sich ausdrücken können, empathiefähig und offen sein.

Krisenintervention – das heißt, auf alle möglichen Gefühlslagen – Schock, Trauer, Wut, Aggression, Angst, Resignation, Apathie oder Verdrängen – die angemessenen Reaktionen zu finden. Das heißt, auch auf starke Gefühle gefasst zu sein und sie auszuhalten. Das heißt, die Körpersprache von Menschen deuten zu können, die für ihren emotionalen Ausnahmezustand keine Worte finden. Das heißt, klar und in kurzen Sätzen sprechen, Vermutungen und Fachbegriffe vermeiden, die Handlungsfähigkeit herstellen, Perspektiven aufzeigen – alles zu seiner Zeit, in 30 bis 300 Minuten. In dieser Spanne liegen die meisten Einsätze.

Flugzeugabsturz und
plötzlicher Kindstod

Bernatzky, Helfer durch und durch, hat Hunderte Einsätze in der Krisenintervention hinter sich, konfrontiert mit allen möglichen Tragödien: dem Mann, der den Absturz eines Privatflugzeugs primär überlebt hat, alle anderen, zwei Piloten und vier weitere Passagiere, sind verbrannt; drei Kindern, deren Eltern mit dem Auto in den Fluss gefallen und ertrunken sind; dem Elternpaar, dessen Baby im Kinderbett gestorben ist – einfach so, plötzlicher Kindstod; oder die 70-jährige Frau, die nach 50 Ehejahren auf einmal ohne ihren geliebten Ehemann zurechtkommen muss. Die meisten dieser Tragödien haben sich im Raum Augsburg abgespielt. Dort ist Bernatzky aufgewachsen. In seiner Heimatstadt Neusäß geht er mit 14 zur Jugendfeuerwehr, mit 16 zum Roten Kreuz. Mit 17 lässt er sich zum Kinderkrankenpfleger ausbilden, arbeitet hauptberuflich viele Jahre in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Augsburg, ehrenamtlich erst als Rettungsdienst- und dann als Kriseninterventionshelfer.

2014 zieht Bernatzky zusammen mit Lebensgefährtin Daniela von Augsburg nach Evenhausen bei Amerang. Die Landschaft ist ein Traum, die Seen und Berge sind nicht weit weg – eigentlich die perfekte Gelegenheit, die Retter-Klamotten an den Nagel zu hängen und nur noch die Natur zu genießen. Die zwei Hunde, Labrador Charly und Bulldogge Ayla, hätten sich wohl sehr gefreut.

Stattdessen – einmal Retter, immer Retter – geht Bernatzky zur Feuerwehr Evenhausen, wo er sich nicht nur bis heute ehrenamtlich engagiert, etwa als Atemschutz-Fachausbilder im Kreisfeuerwehrverband, sondern sich auch mit Markus Haindl anfreundet, heute Leiter der Johanniter-Dienststelle in Wasserburg, damals Vize-Feuerwehrkommandant in Evenhausen.

2020 hat Haindl dann die Idee: „Ralph, du hast doch in Augsburg Krisenintervention gemacht…“ Den Worten folgen Taten: Bernatzky prüft den Bedarf, stimmt sich mit den schon existierenden Interventionsteams von BRK und Ökumenischer Notfallseelsorge ab, es soll ja eine sinnvolle Ergänzung sein, entwirft ein Konzept – und das ziehen die Johanniter dann durch, trotz Corona. Und, so paradox es klingt, vielleicht ist der Stillstand ja der ideale Zeitpunkt dafür gewesen: So viele Menschen, gezwungen zum Nichtstun, wann hat es das schon einmal gegeben!

So geht es von null auf 23 – „zu einem sehr heterogenen, kompetenten, hoch motivierten Team“, betont Bernatzky. Die Jüngste ist 25, die Älteste 70. Die Mehrheit hat keinen Blaulicht-Hintergrund, es ist alles dabei: vom Ex-Geschäftsführer bis zur Redakteurin.

Idealer Moment, um
den Helfern zu helfen

Vom Mut der Johanniter profitiert heute die ganze Region – Wasserburger wie Rosenheimer, Traunsteiner und Mühldorfer. So ist 2023 noch ein idealer Moment gekommen: mit der OVB-Weihnachtsaktion den Neubau des Johanniter-Zentrums Oberbayern-Südost zu unterstützen – das dann endlich Platz für die Aus- und Fortbildung der Ehrenamtlichen in der Krisenintervention, für das Material und ihr Einsatzfahrzeug hat.

Johanniter bauen für uns alle

Artikel 11 von 11