Aschau/Traunstein – Hoch überm Scheichergraben geht es los, dann schwebt man über den Bärbach, schließlich die Prien entlang: Gewässerkunde steht am 21. Tag des Mordprozesses um den gewaltsamen Tod von Hanna W. auf dem Stundenplan.
40 Menschen im Gerichtssaal folgen gespannt dem Drohnenvideo über Dorf, Land, Fluss. Hie und da ein Räuspern, das Klappern von Laptop-Tastaturen, eine kurze Erläuterung des Kripo-Beamten, der den Clip abspielt. Eine Nachfrage der Verteidigung. Sonst ist kaum etwas zu hören.
Die friedlichen
Bilder täuschen
Dabei ist da nichts Aufregendes zu sehen. Aschau im Chiemgau aus der Luft, nur ohne die touristisch besonders wertvollen Foto-Motive. Man sieht: Gewässer. Daneben schmucke Häuser. Bäume, Spazierwege. Dann Wiesen. Alles mit Schnee überzuckert. Ein friedliches Bild.
Ein Bild, das täuscht. Es fällt schwer, sich vorzustellen, wie das nach heftigen Regenfällen aussehen könnte. Wie am frühen Morgen des 3. Oktober 2022. An dem Morgen, als Hanna W. starb. Als ihr Körper zwölf Kilometer weit durch Wasser trieb, bis er sich bei Kaltenbach vor Prien in den Wurzeln eines Baums am Ufer verfing. Ein Spaziergänger entdeckte sie dort, zwölf Stunden nach ihrem gewaltsamen Tod.
Die Verteidigung
geht von Unfall aus
Doch von wem ging die Gewalt aus? Von Sebastian T., der sich seit nunmehr neun Wochen vor der zweiten Jugendkammer des Landgerichts Traunstein wegen heimtückischen Mordes verantworten muss? Oder doch von der Umgebung, der Natur – von Felsen im Bett der Prien zum Beispiel? Kurz: War es eine Gewalttat oder ein Unfall? Lebendig wird es im Gerichtssaal, als die Drohne kurz nach der Autobahn München – Salzburg ein erstes privates E-Werk überfliegt. Es folgen Mühlen an der Prien. Dort gibt es Wehre, Schleusen, Rechen, Turbinen, Seitenkanäle. Ist es möglich, dass dort einem Körper Verletzungen zugefügt werden können, wie sie Hanna aufwies? Die Verteidigung geht davon aus. Ob sie damit richtig liegen könnte, wird sich nicht schnell beantworten lassen. Das Video, am 27. November 2023 gedreht, gibt wenig Aufschlüsse. Bärbach und Prien führten in Hannas Todesnacht kräftiges Hochwasser. Es waren sozusagen andere Gewässer. Rund 70 Zentimeter höher als im Video soll der Wasserspiegel der Prien am 3. Oktober 2022 gewesen sein. Viele Steine, die im Video wie Hindernisse wirken, waren seinerzeit vielleicht reichlich von Wasser überspült. Die Prien hatte andererseits damals eine Wucht, die einem das Video nicht im Mindesten vermitteln kann: 30000 Liter Wasser sollen damals geflossen sein – pro Sekunde!
Der Mann, der vielleicht Antworten hätte, ist noch nicht geladen: Prof. Andreas Malcharek aus München, er ist Hydromechaniker. Und, nunmehr mit Auftrag des Gerichts, Gutachter. Er wird sich das Video auf DVD ansehen und die Prien selbst aufsuchen. Sein Gutachten könnte dann klären, ob Verletzungen wie die von Hanna durch den reißenden Fluss erklärt werden können. Es ist in diesem Prozess ein langsamer, manchmal zäher Weg zur Wahrheitsfindung. Das sieht man bei der Video-Session, das sieht man aber auch bei der Eröffnung des 21. Verhandlungstages. Zunächst muss Verteidigerin Regina Rick ihr Auto umparken. Richterin Aßbichler rät ihr, es im Parkhaus am Traunsteiner Bahnhof zu versuchen.
Scharmützel zu
Beginn des 21. Tages
Mit einer Viertelstunde Verspätung geht es los – gleich mit einem juristischen Scharmützel. Walter Holderle feuert gegen den Beweisantrag der Verteidigung, der eine Untersuchung von Sebastian T.s Smartphone vorsieht. Die Verteidigung führt an, dass Sebastian T.s nächtliches Lauf-Training und seine Spiel-Aktivität am Handy keine Zeit für einen Mord übrig gelassen hätten. Also hofft sie auf den Nachweis, dass Sebastian T. auch wirklich gespielt hat.Walter Holderle aber geht davon aus, dass sich die Verteidigung bei der Länge der Joggingstrecke verrechnet habe. Sebastian T. habe viel mehr Zeit übrig gehabt, rechnet er vor. Denn die Laufstrecke sei in Wirklichkeit nur halb so lang wie die angegebenen viereinhalb Kilometer. T. habe tatsächlich zehn, zwölf Minuten gehabt, seine Tat auszuführen.
Staatsanwalt Wolfgang Fiedler wendet sich gegen die Behauptung der Verteidigung, der Knastzeuge, der Sebastian T. in der Untersuchungshaft kennengelernt und schwer belastet hat, sei ein „notorischer Lügner“. Es handele sich um Behauptungen, die so haltlos seien, dass das Verlangen der Verteidigung nicht zum Beweisantrag tauge.
Verteidiger Dr. Markus Frank stellt gleich anschließend den nächsten Beweisantrag. Auch dieser Antrag soll die Glaubwürdigkeit des Mithäftlings erschüttern. Ist es denkbar, dass sich der Untersuchungshäftling seine Geschichte von Sebastian T.s Mordgeständnis aus Zeitungsberichten zusammengereimt hat? Frank trägt zwei, drei Dutzend Schlagzeilen vor dem Prozess-Start vor, von Zeitungen aus ganz Bayern. Demnach könnte sich der Zeuge tatsächlich über Aspekte des Falls informiert haben.
Es geht auf Heiligabend zu, kalendarisch zumindest. Im Gerichtssaal nicht. Es mag einfach kein weihnachtlicher Friede einkehren. Auch am Ende nicht. Richterin Aßbichler tadelt erneut Anwältin Rick, die nach dem Motto „wasch mich, aber mach mich nicht nass“ Erkenntnisse einfordere, Nachforschungen aber bremse. Regina Rick hält wiederum Staatsanwalt Fiedler vor, dass ein Prozess der Wahrheitsfindung diene, entlastende Beweise nicht zurückgehalten werden dürften. Fiedler setzt die Brille ab und reibt sich die Augen. „Ich werde Nachhilfe nehmen“, sagt er.
Richterin Aßbichler rügt dann noch die unvollständigen Unterlagen für den genannten Beweisantrag der Verteidigung. Verteidiger Harald Baumgärtl breitet entschuldigend die Hände aus. Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, dass Verteidigung, Staatsanwalt und Gericht verschiedener Meinung sein werden oder auch Verteidigung und Verteidigung.
Und dann nochmals
die Belastungszeugin
Dann, am Nachmittag, war auch nochmals Verena R. an der Reihe. Indirekt zumindest: Nachdem sie vor zwei Wochen die Aussage vor Gericht verweigert hatte, wurden vor Gericht Videoaufnahmen ihrer polizeilichen Vernehmung gezeigt. Das Wichtigste: Verena R. wiederholte ungefähr ein halbes Dutzend Male, dass es der Abend nach Hannas Tod war, an dem Sebastian T. ihr gegenüber gefährliches Wissen offenbarte. Wissen über Hannas Tod, das zu diesem Zeitpunkt nur der Täter haben konnte.