Aschau/Traunstein – Was für ein Mensch ist Sebastian T.? Wer vor dem Tag 22 im Mordprozess um den gewaltsamen Tod von Hanna W. in Aschau auf ein Seelen-Porträt des Angeklagten gehofft hatte, dürfte enttäuscht gewesen sein.
Die Gutachter Nicole Liwon und Dr. Rainer Huppert sprachen lang über den nunmehr 22-Jährigen. Klare Konturen wurden aber kaum erkennbar. Klar ist dagegen: Nach beider Meinung wäre Sebastian T. im Falle eines Schuldspruchs als Jugendlicher zu bestrafen. Eine Sicherheitsverwahrung kommt also nicht infrage. Und: Beide entdecken nichts, was auf verminderte Schuldfähigkeit schließen lässt.
Ein stiller, eher schüchterner Mensch, gehemmt, von der Intelligenz her im unteren Durchschnitt anzusiedeln. So nahm ihn die Psychologin Nicole Liwon wahr, die Sebastian T. verschiedenster Tests unterzog.
Ein junger Mensch mit „multiplen Entwicklungsauffälligkeiten“, die sich aber nicht zu einer Persönlichkeitsstörung verdichtet hätten: So lautet die Beobachtung von Dr. Huppert. Pathologische Symptome habe er nicht festgestellt.
Beide kommen zum Schluss, dass Sebastian T. zum Zeitpunkt von Hannas Tod am 3. Oktober 2022 reifeverzögert gewesen sei. Dieselbe Meinung äußerte auch die Zeugin der Jugendgerichtshilfe. Übereinstimmung bestand auch in anderen Punkten. Etwa in der niedrigen Frustrationstoleranz Sebastian T.s. Oder in seinem sozialen Verhalten.
Demnach ist Sebastian T. ein Außenseiter, ein Einzelgänger, der Schwierigkeiten hat oder zumindest hatte, sich in andere Menschen einzufühlen, beziehungsweise deren Standpunkt erahnen zu können. Jemand, der auf andere „komisch“ wirkte, wie das bereits Zeugen geschildert hatten. Und der eine niedrige Frustrationsschwelle hat.
Beide Gutachter äußerten sich auch über Sebastian T.s psychosexuelles Verhalten. Sie habe „keinerlei Auffälligkeiten“ feststellen können, „außer dem Fehlen jedes Kontakts zu Frauen“, sagte Liwon. Unter den Zurückweisungen muss Sebastian T. laut den Experten sehr gelitten haben.
Huppert wies aber auch darauf hin, dass Sebastian T. vor seiner Verhaftung ein „reziprokes soziales Verhältnis“ aufbaute. Sprich: dass er Freunde und Bekannte gefunden hatte, die auf ihn reagierten, so wie er auf sie.
Rainer Huppert ließ den einen oder anderen tieferen Einblick ins Seelenleben des Sebastian T. zu. Wenn man Huppert richtig verstanden hat – daran durfte man angesichts der Vorliebe des Gutachters für überlange Sätze immer wieder mal zweifeln –, dann ist Sebastian T. eine solche Tat nicht von vornherein zuzutrauen. Auszuschließen ist eine solche Gewaltexplosion aber offenbar nicht. Denkbar sei als Auslöser „eine massive Kränkung“, die nur „ausagiert“ werden könne, „wenn er jemanden anderen zerstört“, sagte Huppert.
Für gerunzelte Stirnen im Saal und eine Nachfrage der Vorsitzenden Jacqueline Aßbichler sorgten seine Feststellungen zu Sebastian T.s Porno-Konsum. Er konstatierte einen explosionsartigen Anstieg von Sebastian T.s Zugriffen, hielt aber auch fest: „Es sind keine schwer abnormen Sexualfantasien explorierbar.“
Andererseits räumte auch Huppert einen Schockmoment nach dem Betrachten eines Videos ein, das Sebastian T. auf seinem Smartphone angeschaut haben soll. Dieses „ekelhafte Video ist sicher etwas, das einem zu denken gibt“. Wollte Sebastian T. am dargestellten Sex mit einer Leiche Lust empfinden? Hat er also Neigungen zu Nekrophilie gezeigt, wie Jacqueline Aßbichler fragte? Es gehe dabei wohl eher um Kontrolle und Gewalt, sagte Huppert. Aber: „Ich bin kein Porno-Spezialist.“
Beiden Gutachtern sagte Sebastian T. offenbar nichts über den Hergang der Nacht auf den 3. Oktober 2022. Rainer Huppert zeigte sich beeindruckt von der Antwort T.‘s auf diese Frage: Wie T. denn damit umgehen würde, wenn das Gericht zum Ergebnis komme, dass er den Mord an Hanna begangen hat. „Er hat sich mit der Situation beschäftigt, das wurde erkennbar“, sagte Huppert. Sebastian T. denke weniger an sich als an die Familie „und deren Situation in einem überschaubaren Gefüge in seinem Heimatdorf“.
Für Nebenkläger-Anwalt Walter Holderle ein Fingerzeig. Sebastian T. habe kein Anzeichen von sich gegeben, dass er sich zu unrecht inhaftiert sehe. „Sein Thema war, wie betrifft es die Eltern, dass ich in Haft sitze, und können die dann weiterhin in Aschau wohnen bleiben?“ Da habe sich Sebastian T. in die Seele blicken lassen.
Am 4. Januar geht es weiter mit den Resultaten des Auslesens von Sebastian T.s Handy. Die Verteidigung hatte den Beweisantrag gestellt. Sie geht davon aus, dass Sebastian T. um den mutmaßlichen Tatzeitpunkt herum mit einem Handy-Spiel beschäftigt gewesen sein könnte. Ob „Clash of Clans“ – so lautet dessen Name – tatsächlich gespielt wurde, oder ob da nur Hintergrunddaten etwa von Updates zu finden sind, darüber wird ein Experte des Landeskriminalamts aussagen.
Es wird bei Weitem nicht der letzte Tag in diesem Prozess sein, dessen Termine ursprünglich nur bis 22. Dezember 2023 angesetzt gewesen waren. Das zweite Weihnachten ohne Hanna: Eltern und Bruder werden auch lange nach den Feiertagen nicht mit der Tragödie abschließen können.
Michael Weiser