Rosenheim – Nach 30 Verhandlungstagen scheint der Mordprozess um den gewaltsamen Tod von Hanna W. am Landgericht Traunstein nicht mehr weit von einem Abschluss entfernt. Scheint, wohlgemerkt. Das OVB sprach mit Peter Dürr, Vorsitzender des Rosenheimer Rechtsanwaltsvereins und Vorstandsmitglied der Münchner Rechtsanwaltskammer. Dürr, Fachanwalt für Strafrecht, erklärt vor dem nächsten Verhandlungstag am heutigen Donnerstag, 8.30 Uhr, was eine Jugendkammer eigentlich macht. Ob ein Gericht die Wahrheit finden kann. Und was geschieht, wenn sich Zweifel einstellen.
Wann könnte im Aschauer Mordprozess eine Entscheidung fallen?
Es ist ein sehr umfangreiches Verfahren. Das Gericht hat zunächst eine Amtsaufklärungspflicht. Es muss dazu Zeugen hören, Sachverständige befragen und Lichtbilder in Augenschein nehmen. Das Beweisprogramm des Gerichts ist an sich abgeschlossen. Der Verteidigung steht es aber frei, eigene Beweisanträge zu stellen, was am letzten Verhandlungstag ja auch umfangreich gemacht wurde. Und diese Beweisanträge wird das Gericht nun prüfen. Und dann wird es entscheiden: Brauchen wir noch eine zusätzliche Beweisaufnahme, oder sind die Beweisanträge abzulehnen?
Wann dürfen wir mit den Plädoyers rechnen?
Ein so umfangreicher Prozess hat seine Dynamik. Ich würde mich nicht sicher fühlen, dass wir uns schon am Ende der Zielgeraden befinden. Entscheidend wird sein, wann die Beweisaufnahme abgeschlossen werden kann und das Gericht die Beweisaufnahme als beendet ansieht. Dann sind wir in der Tat bei den Plädoyers. Wir haben da übrigens viele Schlussvorträge: Die drei Verteidiger und den Staatsanwalt, und wir haben auch einen Nebenklage-Vertreter. Jeder dieser Verfahrensbeteiligten kann und darf einen Schlussvortrag halten. Auch der Angeklagte kann sich im Rahmen des „letzten Wortes“ zu den Vorwürfen der Anklage äußern.
Sicher dürfte nach dem Vortrag des psychiatrischen Gutachters sein, dass der Angeklagte im Falle einer Verurteilung nach Jugendstrafrecht verurteilt wird. Was heißt das genau?
Vorsicht mit dem Wort „sicher“. Entscheiden tut immer noch das Gericht beziehungsweise die Jugendkammer, und nicht der Sachverständige. Auf der Anklagebank haben wir einen Heranwachsenden, also zum Tatzeitpunkt im Alter zwischen 18 und 21 Jahren. Da kann Jugendstrafe Anwendung finden, muss es aber nicht. Was hier besonders ist: Es handelt sich nicht um eine klassische jugendtypische Tat. Der Vorwurf, der gegen den Angeklagten erhoben wird, ist mit der gravierendste, den man nach deutschem Strafrecht erheben kann, nämlich der des Mordes. Im Erwachsenenstrafrecht gibt es keine Strafzumessung. Das heißt hopp oder top, entweder Freispruch oder lebenslang. Im Falle einer Verurteilung nach Jugendstrafrecht lautet die Höchststrafe zehn Jahre. Falls dieser Strafrahmen nicht ausreicht, kann bei Mord eine Strafe von bis zu 15 Jahren verhängt werden. Die Neuerung wurde vor einigen Jahren eingeführt.
Was ist der gravierendste Unterschied vom Jugendstrafrecht zum Erwachsenenstrafrecht?
Im Erwachsenenstrafrecht geht es um die Sanktion, um das Ahnden. Das Jugendstrafrecht geht dagegen von der sogenannten erzieherisch gebotenen Sanktion aus. Es ist immer die Jugendgerichtshilfe involviert, man prüft, wo der Angeklagte auf die falsche Bahn geraten ist und wie man intervenieren kann. Die klassischen Jugendverfehlungen spielen sich nicht vor der Jugendkammer ab, sondern vor dem Jugendrichter oder dem Jugendschöffengericht am Amtsgericht. Hier ist es ein Schwurgerichtsverfahren mit großer Besetzung. Ob da noch von erzieherisch gebotener Sanktion gesprochen werden kann, sei dahingestellt.
Werden wir nach diesem Indizienprozess wissen, was sich in dieser Nacht auf den 3. Oktober 2022 zugetragen hat?
Natürlich ist das von Interesse, auch vonseiten der Nebenklage.
Richtig, vor allem den Eltern liegt viel daran.
Man muss aber auch wissen, was ein Strafprozess leisten kann und soll. Welches Urteil die Jugendkammer auch aussprechen wird: Ich glaube nicht, dass es möglich sein wird, eine vollständige Sachaufklärung zu betreiben. Ausgangspunkt ist die Anklageschrift. Da erhebt die Staatsanwaltschaft Vorwürfe, würdigt diese auch rechtlich, und es ist Aufgabe des Gerichts, mit der Beweisaufnahme festzustellen, ob man die Tat, die dem Angeklagten vorgeworfen wird, zweifelsfrei nachweisen kann. Wir haben hier keine Kamera, die den ganzen Vorgang aufgezeichnet hätte. Können gewisse Sachen nicht aufgeklärt werden, oder bleiben sie zweifelhaft, schlägt das Pendel zugunsten des Angeklagten aus. Wenn das Gericht sagen muss, es kann so gewesen sein, aber auch anders – dann hieße es in „dubio pro reo“, im Zweifel für den Angeklagten. Und selbst wenn das Gericht sagt, wir gehen von einer Täterschaft des Angeklagten aus, muss entschieden werden, ob Mordmerkmale vorliegen. Oder ob es sich doch um einen Totschlag oder vielleicht eine Körperverletzung mit Todesfolge handelt. Die Bandbreite ist groß.
Die Vorsitzende Richterin Aßbichler wird das nicht alleine entscheiden. Können Sie erklären, wer neben ihr auf der Richterbank sitzt?
Man verhandelt vor einer Jugendkammer. Und da der Vorwurf auf Mord lautet, verhandelt die Jugendkammer in Vollbesetzung. Das heißt, wir haben drei Berufsrichter und zwei so genannte Schöffen, ehrenamtliche Richter, die aus der Bevölkerung ausgewählt werden. Der Gesetzgeber möchte damit die Auffassung der allgemeinen Bevölkerung einfließen lassen. Wenn die Plädoyers gehalten wurden und der Angeklagte das letzte Wort hatte, wird sich das Gericht zur Beratung zurückziehen. Und es wird sich die Zeit nehmen, die es braucht.
Wichtig: Es gibt das „Beratungsgeheimnis“. Es wird das Urteil verkündet, der Urteilstenor, aber wie das Gericht beraten hat und wie das Stimmgewicht ist, werden wir nicht erfahren. Das wird auch in den Akten nicht niedergelegt. Die Schöffen haben genau das gleiche Stimmgewicht wie die Berufsrichter. Wenn zum Beispiel beide sagen, der Angeklagte sei freizusprechen, und ein Berufsrichter schließt sich der Auffassung an: Dann wäre ein Freispruch auszusprechen.
Interview: Michael Weiser