Wasserburg – „Immer wenn ich hier vorbeiradel oder vorbeigehe, muss ich daran denken: Hier wurden Menschen zusammengetrieben, in Viehwaggons geschoben und wegtransportiert – in den Tod“, sagt Peter Stenger. „Hier, wo ich jetzt stehe, standen sie, verängstigt, verzweifelt.“
Wer Peter Stenger begleitet auf diesem Weg zwischen kbo-Inn-Salzach-Klinikum und Gut Gern, mit ihm innehält an diesem Platz, an dem rechts und links noch die Gleise der Eisenbahn zu erkennen sind, kann nachvollziehen, dass dies ein Ort ist, der einem einen Schauer über den Rücken laufen lässt. Die meisten Wanderer und Radler gehen und fahren jedoch achtlos vorbei. Kaum jemand weiß, was hier vor gut 80 Jahren geschehen ist: Deportation in die Tötungsanstalt nach Hartheim.
Erinnerung
an Schicksale
An diese Schicksale während der NS-Zeit erinnert ein Denkmal südlich von Haus 7. Kleine Steinchen auf der Stele zeigen, dass es Menschen gibt, die hier innehalten. Trotzdem findet Stenger, dass auch auf dem Weg, von dem aus die Betroffenen der Verfolgung durch das Nazi-Regime deportiert wurden, ein Mahnmal errichtet werden sollte. Denn dieser Platz sei weitaus mehr frequentiert als der Standort des Denkmals im Park von Gabersee.
„Je älter ich werde, desto mehr wird mir bewusst, was hier geschehen ist“, berichtet Stenger. Er ist 80, ein Jahr vor Kriegsende geboren. Seit 1945 lebt er in Wasserburg. Bis Anfang der 2000er-Jahre hat er im Inn-Salzach-Klinikum in der Verwaltung gearbeitet. „Ich bin ein Gaberseer durch und durch“, sagt er. Das bedeutet für ihn auch, sich mit der dunkelsten Seite der Geschichte des Stadtteils zu beschäftigen. Das hat auch das psychiatrische Fachkrankenhaus getan, ebenso der Bezirk, die Stadt, auch die Stiftung Attl, aus der ebenfalls Menschen deportiert wurden. 742 namentlich bekannte Opfer gab es in Wasserburg, in großer Mehrzahl Patientinnen und Patienten aus den damaligen Heil- und Pflegeanstalten Gabersee und Attl.
An sie und alle weiteren Menschen, die von den Nationalsozialisten ermordet, verfolgt oder vertrieben wurden, erinnert auch die zentrale Gedenkstätte der Stadt am Heisererplatz.
Das sei doch lange her und könne doch jetzt auch einmal vergessen werden, wird Stenger oft gesagt, wenn er auf die Erinnerungskultur pocht und seiner Forderung nach einem weiteren Mahnmal Ausdruck verleiht. Doch gerade jetzt, in Zeiten, in denen rechtsextreme Kräfte wieder über die massenhafte Vertreibung von Menschen reden, besteht der ehemalige Stadtrat darauf, zu erinnern und zu gedenken. „Wie ein Stück Vieh sind die Menschen hier verladen worden. Das geht einem unter die Haut“, sagt er. „So lange ist das doch noch gar nicht her.“
„Es gibt kein Vergessen“, findet auch Bezirkstagspräsident Thomas Schwarzenberger. „Gerade im Hinblick auf die aktuellen gesellschaftlichen Strömungen sind wir verpflichtet, die Erinnerung an die Opfer der NS-Diktatur wachzuhalten“ – auch an einem konkreten Ort, so wie in Wasserburg nahe den Bahngleisen im südlichen Bereich des Klinikgeländes. Dafür setzen sich auch der ärztliche Direktor des kbo-Inn-Salzach-Klinikums, Professor Dr. Peter Zwanzger, und Geschäftsführer Dr. Karsten Jens Adamski ein. Die Pressesprecherin des Bezirks, Constanze Mauermayer, betont auf Anfrage: „Der Bezirk Oberbayern und das kbo-Inn-Salzach-Klinikum können den Wunsch und die Idee von Herrn Stenger wirklich gut nachvollziehen.“
Die Leitung des Klinikums befasse sich schon seit Langem intensiv mit dem Thema, in Gabersee einen zweiten Erinnerungsort zu schaffen. Die Klinik habe Bezirksarchivar Nikolaus Braun um fachliche Begleitung gebeten. Dieser sei insbesondere mit der Klärung der Frage betraut worden, wo genau die Patientinnen und Patienten in den Zug eingestiegen seien. „Die Quellenlage ist bedauerlicherweise spärlich, und – wie immer – ist historische Forschung komplex. Wir können nach heutigem Sachstand lediglich sagen, dass es denkbar ist, dass die Patientinnen und Patienten an der für das Denkmal ins Auge gefassten Stelle in den Zug gestiegen sind. Es gibt aber bislang keinen definitiven schriftlichen Quellenbeleg dazu“, so Mauermayer.
„Auf Grundlage dieses Sachstands wird die Idee, ein weiteres Denkmal zu schaffen, in der kommenden Sitzung des Arbeitskreises Erinnerungskultur des Bezirks Oberbayern vorgestellt und diskutiert“, teilt die Pressestelle weiter mit. Vor Ort habe bereits eine Besichtigung stattgefunden. Vertretungen der Bezirksverwaltung, darunter die Bezirksheimatpflegerin und Leiterin der Kulturabteilung des Bezirks Oberbayern, Dr. Astrid Pellengahr, und Bezirksarchivar Braun sowie ISK-Geschäftsführer Adamski, ärztlicher Direktor Zwanzger und der Leiter des Gabersee-Museums, der Wasserburger Stadtrat Wolfgang Schmid, hätten sich ein Bild gemacht. „Ich freue mich, dass die Klinikdirektion das Vorhaben, einen zweiten Gedenkort zu schaffen, unterstützt. Sie leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungskultur“, ist sich Schmid sicher.
Stenger steht mit seinem Wunsch also nicht alleine da. Bei der Besprechung vor Ort habe die Kulturabteilung des Bezirks bereits die Durchführung eines Wettbewerbs zur Gestaltung des Denkmals thematisiert. Nach der Befassung im Arbeitskreis Erinnerungskultur und im Kulturausschuss des Bezirkstags müsse die Wettbewerbsaufgabe beschrieben und nach der Gremienbefassung ausgelobt werden.
Stadt Wasserburg
wird beteiligt
Auch die Stadt Wasserburg werde an diesem Prozess beteiligt, denn die Bahngleise würden auf kommunalem Grund liegen. „Es gibt also noch einige Fragen zu klären.
Aber: Wir haben den erklärten Willen, das Denkmal nach Abschluss der Recherchen zu der Frage, wo die Patientinnen und Patienten in den Zug gestiegen sind, voranzubringen und zu realisieren“, teilt der Bezirk mit.
In Namen des Klinikums bekräftigt dies Geschäftsführer Adamski: „Es ist unvorstellbar, was hier geschehen ist. Das übersteigt unseren Horizont. Wir müssen die Erinnerung wachhalten, als Orientierung für heute und die Zukunft. Das ist unsere Verpflichtung.“