„Das sind verstörende Parallelen“

von Redaktion

Interview Moderator und Autor Reinhold Beckmann über seine Mutter und ihre Familie

Rosenheim – In seinem viel diskutierten Buch „Aenne und ihre Brüder“ schildert Sportmoderator, Talkmaster und Produzent Reinhold Beckmann nicht nur die Geschichte seiner Mutter Aenne und ihrer Familie, sondern auch das Geschehen in Deutschland in Zeiten zweier Weltkriege und der BRD der Wirtschaftswunderzeit. Wochenlang stand das Buch in der Spiegel-Bestsellerliste. Am morgigen Dienstag, 20 Uhr, liest Beckmann in der Buchhandlung Rupprecht in Rosenheim.

Mit dem OVB sprach er über Krisen, beunruhigende Parallelen, über Vorbilder und Verluste. Und über Fragen, die Söhne an Väter stellen.

Sie erzählen von Ihrer Mutter geradezu zärtlich. Was haben Sie am meisten an ihr geliebt, was am meisten bewundert?

Dass sie ein so reiches Leben geführt hat – trotz all der Verluste, die ihr schon früh widerfahren sind.  Ihre Brüder kamen alle vier nicht aus dem Krieg zurück. Und die Eltern waren bereits gestorben, als sie noch ein kleines Mädchen war. Dennoch wagte Aenne als junge Frau diesen Schritt heraus aus der Enge ihres Dorfes. Sie schaffte es, ihr eigenes Leben zu leben, und dabei ihre Familie trotzdem nicht aus den Gedanken zu verlieren. 

Sie schreiben vom Stern, der Ihrer Mutter Orientierung gab. Welcher Stern hat sie geführt?

Meine Mutter hat immer offen über alles gesprochen. Mein Vater konnte das – wie so viele andere seiner Generation – lange Zeit nicht. Erst so ab dem 75. Lebensjahr begann er sich zu öffnen. Ich glaube auch, dass ihre Gottesfürchtigkeit Aenne geholfen hat. Sie hat geschimpft mit ihrem Herrgott, und sie hat manchmal geflucht.

Aber im Grunde war da immer ein tiefes Vertrauen. Sie war grundlegend verortet. Und das ist etwas, was wir in unserer verweltlichten Gesellschaft oft nicht haben – wir sind nach oben hin meist ein bisschen obdachlos.

Es kam nur ein Bruder zurück, und auch das nur als Toter. Und dann tauchten nach Jahrzehnten die sterblichen Überreste eines weiteren Bruders auf, in Gumrak, bei Stalingrad. Wie haben Sie das erlebt?

Seit so vielen Jahren galt Alfons als „vermisst“ – und 61 Jahre nach seinem Tod kam dann die Nachricht, dass er gefunden wurde. In dem Bunker bei Gumrak lagen insgesamt 34 Wehrmachtssoldaten. 22 davon wurden identifiziert. Anhand der Erkennungsmarke konnte man auch Alfons Identität klären.

Ich war nicht dabei, als die Nachricht kam – aber ich weiß von der besonderen Verbundenheit zwischen Alfons und Aenne, die nur zwei Jahre auseinander waren. Auch in den Feldpostbriefen spürt man, dass zwischen den beiden Geschwistern ein besonders enges Verhältnis bestand.

Sie begannen mit dem Schreiben, kurz bevor am 24. Februar 2022 Russland die Ukraine angriff.

Mit der Recherche hatte ich schon länger begonnen – und dann hatte ich mir einen Termin gesetzt: Montag, 21. Februar, 9 Uhr, da fängst du an. Drei Tage darauf saß ich vor dem Fernseher und dachte, das kann nicht wahr sein. Da waren Bilder von Mariupol zu sehen. Onkel Alfons war dort gewesen. Die Stadt wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, und nun wurde sie wieder verwüstet. Das sind verstörende Parallelen.

Sie schreiben auch vom Ende der Weimarer Republik, vom Aufstieg Hitlers. Sehen Sie da ebenfalls Parallelen?

Der Vergleich ist schwierig. Zum Glück agieren wir heute aus einer stabilen, gelernten Demokratie heraus. Damals wurde andauernd neu gewählt, es gab ständig neue Kanzler. Die Arbeitslosigkeit war immens hoch. Dennoch ist bei uns in jüngster Zeit der Rechtsruck sehr stark. Da hofft man schon, dass sich die Geschichte bitte nicht wiederholt. Es beruhigt mich etwas, dass die Gesellschaft jetzt wachgeküsst scheint, dass so viele Menschen auf die Straße gehen. 

Wollen Sie auch warnen?

Das Buch zeigt, wie das damals in den kleinen Gemeinden war. Wie konnte es sein, dass in einem Dorf, in dem die Kirche das Sagen hat, dann doch der Nationalsozialismus Einzug hält? Der Druck von außen war groß. In der benachbarten protestantisch geprägten Stadt Melle hatten die Nationalsozialisten längst die Mehrheit, als die Menschen in Wellingholzhausen noch Zentrum wählten, die Partei der Katholiken.

Dann kam die SA, stiftete Schlägereien an, der Schuldirektor wurde ausgetauscht, und die katholische Kirche ließ sich korrumpieren. Die evangelische Kirche hat ohnehin frühzeitig kooperiert. Aber auch die katholische Kirche hat ihre große Chance vertan. Sie hätte widerständiger sein müssen. 

Unser Dorf, unsere Straße, unsere Familie – eine Oase des Widerstands. Das hört man oft. Hält Ihre Schilderung der Überprüfung stand?

Ich kann nur erzählen, was ich über Wellingholzhausen recherchiert und erfahren habe. Ich kann das nicht generalisieren, und darum geht es ja auch nicht. Es ging mir um die Geschichte meiner Mutter und ihrer Familie in einem kleinen Dorf. 

Sie schildern sich selbst als langhaarigen Wehrdienstverweigerer, der mit seinem Vater hart ins Gericht ging. Da kommen die 68er ganz schön selbstgerecht rüber.

Moment, ich war ein 69er. Die 68er waren mir sehr suspekt, nachdem ich sie am Anfang doch bewundert hatte. Aber dieses ständige Ideologisieren, diese Grundsatzdebatten, wer der Klügere ist… Nein. Ich komme eher aus der Woodstock-Generation. Aber natürlich habe ich mit meinem Vater schwer debattiert und im Nachhinein ungerechte Fragen gestellt. Wie konntet ihr nur diesem Hitler verfallen? Deswegen schreibe ich auch, dass es schade war, dass ich Sebastian Haffners „Anmerkungen zu Hitler“ erst später gelesen habe. Weil der so gut analysiert hat, wie viel Kraft und Wissen dazu gehörten, in Hitler das Böse und Dunkle zu sehen. Mein Vater sagte immer, „wir haben einen Fehler gemacht, wir haben es nicht gesehen. Wir glaubten, der könne übers Wasser gehen.“ 

Was können wir aus Ihrem Buch lernen?

Ich bin das Buch ohne eine konkrete Absicht angegangen, außer die Geschichte niederzuschreiben, wie Aenne es sich gewünscht hat. Aber ich bin froh über die Resonanz. Das zeigt, wie dieses Thema immer noch überall zu Hause ist. Fast alle Lesungen sind ausverkauft. Und die Leute haben ein großes Bedürfnis, auch ihre eigenen Geschichten zu erzählen, von dem, was sie auf dem Dachboden gefunden haben, von ihren Familien. Wenn das Buch das angeschoben hat, macht es mich glücklich. Die Resonanz hat sicher auch mit der aktuellen Verunsicherung zu tun. Damit, dass sich die Selbstverständlichkeit verabschiedet hat, in friedlichen Zeiten zu leben. Krieg in Europa, die Weltsituation insgesamt – das verunsichert die Menschen.

Sehen Sie Abstiegsängste?

Jedenfalls gibt es wirtschaftlichen Druck. Die Leute merken, dass viele Lebensträume in weite Ferne gerückt sind. Normale Arbeiter, Angestellte, Handwerker, können die sich ein Eigenheim leisten? Früher hat man sich – zumindest auf dem Land – einen Acker besorgt, dann hat man gebaut. Man hat sich beim Chef der örtlichen Bank einen Kredit gesichert, selbst mit angepackt, Freunde um Hilfe gebeten. Doch das funktioniert nicht mehr. Es ist nicht mehr finanzierbar. 

Ihre Rekonstruktionen sind manchmal sehr genau. Über ein Weihnachten während der Kindheit Ihrer Mutter schreiben Sie, dass schlechtes Wetter herrschte und es regnete…

Ich habe die Erinnerungen meiner Mutter mit offiziellen Aufzeichnungen abgeglichen. Vieles konnte ich aus den Briefen zusammenpuzzeln, die Aenne mir hinterlassen hat: die Feldpost ihrer Brüder. Hundert Briefe waren das, mein Schreibtisch war über Monate zugedeckt. Ich habe eine Menge Bücher gelesen, mit Menschen gesprochen, mit Zeitzeugen und lokalen Historikern. Ein halbes Jahr lang habe ich nur recherchiert. Doch dann war ich mir immer noch nicht im Klaren, wie ich das Buch aufbaue, wie ich die Erzählebenen verweben kann. Die Briefe waren der Ausgangspunkt. Doch bis zum Buch war‘s ein langer Weg.

Interview: Michael Weiser

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