Sein Körper spielt total verrückt

von Redaktion

Seit der Pandemie kennen viele den Begriff: Fatigue Syndrom, dauerhafte Erschöpfung. Doch es gibt Menschen, die wirft ein Virus so sehr aus der Bahn, dass der Körper extrem verrückt spielt und keine Reize mehr aushält. So ist es bei Kilian Huber aus Schnaitsee. Der 21-Jährige lebt seit 2019 abgeschottet.

Schnaitsee – Kilian Huber war ein sehr sportlicher Teenager: Er liebte das Skifahren, Fußball und Klettern, war ein interessierter, engagierter Schüler im Gymnasium in Trostberg. Doch im Juni 2019 wurde er krank. Was zuerst aussah wie ein ganz normaler grippaler Infekt, entpuppte sich als Pfeiffersches Drüsenfieber. Die Genesung verlief schleppend, erinnert sich seine Mutter Osita Huber: „Mal ging es besser, dann wieder schlechter, ein ewiges Auf und Ab.“

Etwas ist plötzlich
gewaltig im Argen

Im September dann der Tiefpunkt: anhaltendes extremes Kopfweh, starke Glieder- und Muskelschmerzen, Herzrasen, Darmprobleme – „ein Zusammenbruch des ganzen Körpers“, wie seine Mutter sagt. „Ich habe gespürt, da ist was gewaltig im Argen“, erinnert sie sich.

Doch es dauerte fast ein Jahr, bis endlich die Diagnose feststand: Kilian Huber hat ME/CFS: das Myalgische Enzephalomyelitis-Chronisches Fatigue Syndrom, eine neuroimmunologische Multi-Systemerkrankung, die mit einer extrem beeinträchtigten Leistungsfähigkeit einhergeht. Daran leidet auch der Ex-Fußballstar Olaf Bodden, dessen Buch über diese Erkrankung, die ihn zum Pflegefall machte, Osita Huber weiterhalf, das Leiden ihres Sohnes zu verstehen. Dass er an ME/CFS erkrankt sein könnte, auf diese Idee hatte der Apotheker in Schnaitsee sie zum ersten Mal hingewiesen.

Es gibt keinen
Biomarker

Trotzdem begann für die Familie und Kilian ein monatelanges Ärzte-Hopping. Denn ME/CFS ist laut Osita Huber von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zwar bereits seit 1969 als schwere neuroimmunologische Krankheit anerkannt, jedoch nach wie vor kaum erforscht. Es gebe nur wenig Medikamente und Therapien, kaum Fachärzte, die sich auskennen würden – und keinen eindeutigen Biomarker wie einen Labortest oder einen Bildgebungsbefund, an dem die Erkrankung festgemacht werden könne.

„Wir fühlen uns oft nicht verstanden, ja nicht mal ernst genommen“, bedauert die Angehörige. Erst im Schwabinger Krankenhaus bei der anerkannten Expertin Professorin Dr. Uta Behrends gab es echte Hilfe. Zweite Anlaufstelle in Deutschland ist laut Osita Huber die Berliner Charité. „Es ist eine Krankheit der 100 Symptome“, stellt sie immer wieder fest. Bleierne Müdigkeit gehöre dazu, Licht- und Lärmempfindlichkeit, Darmprobleme, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, sämtliche Grippe-Symptome. Jede körperliche, seelische und geistige Anstrengung könne zum Crash führen, berichtet sie. „Ärger geht gar nicht, Freude auch nicht.“

Doch die Familie Huber hat eine Strategie entwickelt, die ihrem Sohn hilft: „Pacing“, auf Deutsch: Energie-Management. Das heißt: Der Alltag wird so ausgerichtet, dass es für Kilian kaum Reize gibt, keine emotionalen Schwankungen. Halt gebe eine feste Routine: Aufstehen, frühstücken, Pause, Körperpflege, Pause, Mittagessen, Pause, fünf Minuten Handynutzung, Pause.

Immer gleich, nichts Unvorhersehbares, das triggern könnte, bringt Osita Huber es auf den Punkt. Sie erklärt es so: Der Körper müsse sich sicher fühlen, so sicher, dass er sich erholen könne. Ängste, Emotionen, Überraschungen, Abweichungen von der Routine stressen den Körper, so ihre Erfahrung. „Die Nerven sind außer Rand und Band“, betont Kilians Mutter, es gelte das zentrale Nervensystem zu stabilisieren.

Das heißt jedoch zugleich: Auch Kilians Mutter, der Vater und die Schwester leben relativ isoliert. Daheim Gäste empfangen, geht nicht, in Urlaub fahren, auch nicht, gemeinsam was unternehmen: Fehlanzeige. Alles, was die familiäre Routine durchbricht, könnte bei Kilian einen Zusammenbruch herbeiführen. „Mit den Betroffenen verschwinden auch die Angehörigen“, sagt Osita Huber. Trotzdem hätten ihre Tochter und der Pflegesohn der Familie schon in ihren jungen Jahren immer Herzlichkeit und Verständnis für die Krankheit ihres Bruders gezeigt, freut sie sich.

Einmal im Monat bekommt ihr Sohn trotz der notwendigen Abschottung mittlerweile Besuch: 20 Minuten Gespräche mit einem Freund.

Drei Gleichaltrige („lieben Dank an Thomas, Philipp und Michi, die zu ihm halten“) kommen regelmäßig. Außerdem helfen ein Nachbar, der Hausarzt aus Schnaitsee, der bei der Familie Hausbesuche macht, eine Coaching-Fachkraft, „die Kilian immer wieder aufbaut“ und Strategien für Entspannung und Körpergefühl sowie Meditation vermittelt. In kleinen Fünf-Minuten-Dosen – mehr geht nicht. Auch nicht Musik hören oder fernsehen.

Kilian Huber geht es jedoch bereits besser. Es geht voran, berichtet seine Mutter. Ihr Sohn gehört nicht zu den am schwersten Betroffenen. Diese sind bettlägrig, können sich nicht einmal umdrehen, verbringen ihr Leben in abgedunkelten Räumen, kommunizieren nur flüsternd mit anderen. Sie müssen gefüttert und gewickelt werden, berichtet Osita Huber, die in engem Kontakt mit Angehörigen solcher Schwerstbetroffenen steht.

Ihr Sohn kann immerhin mal für einige Minuten hinausgehen an die frische Luft. Und er empfindet Freude an seinen Katzen, eine Emotion, die er mittlerweile aushält. Seine Lieblingstätigkeit: Lesen. Die Lektüre: die OVB-Heimatzeitungen. Morgens eine Meldung, nachmittags einen Artikel. So arbeitet sich der 21-Jährige täglich in Lese-Häppchen durch eine Ausgabe, informiert sich auf diese Weise über Politik, Wirtschaft, Sport, Lokales. Trotzdem sagt Kilian laut seiner Mutter: „Ich werde wieder gesund.“ Davon ist auch seine Familie überzeugt. Denn es gebe auch positive Beispiele von Genesungen. Der Weg dahin sei jedoch beschwerlich. Eine Standard-Therapie, das eine Medikament: All das gebe es nicht. „Jeder muss seinen ganz individuellen Weg finden“, sagt Kilians Mutter.

Bei ihrem Sohn seien es „die Säulen Coaching, Katzen, CBD, Nervensystemregulierung, Ernährung, Mentaltraining und nur fünf Prozent Medikamente sowie Nahrungsergänzungsmittel“. Nach vier Jahren mit vielen Rückschläge hätten diese Bausteine die Gesundheit zu 15 Prozent zurückgebracht.

Eine Stimme für
Betroffene

Osita Huber möchte jedoch am Beispiel ihres Sohnes auch ihre Stimme erheben für alle Betroffenen und ihre Angehörigen, vor allem für die Familien der Schwerstkranken. Sie berichtet von Eltern, die in Todesangst um ihr Kind leben, die keine Nacht mehr durchschlafen können, von Kranken, die nicht einmal ein bisschen Körperpflege ertragen. „Das ist noch viel, viel schlimmer als bei uns“, sagt Osita Huber, die das Schicksal ihres Sohnes auch deshalb an die Öffentlichkeit tragen möchte, um auf die Krankheit aufmerksam zu machen. Betroffene kämpfen sich mit Unterstützung ihrer Angehörigen durch den Behörden-Dschungel des Gesundheitswesens: Ärzte, die sich nicht auskennen, Kranken- und Pflegekassen, die die Erkrankung nicht anerkennen, Menschen, die mit gut gemeinten Ratschlägen und Tipps nerven.

Sogar Ablehnung und Diskriminierung haben die Hubers erlebt: Der Sohn wurde abgestempelt als überempfindlich, die Mutter als „Über-Mama“, es gab Appelle, „sich doch mal zusammenzureißen“. Auch das Verständnis dafür, dass die Eltern den Sohn nicht alleinlassen können, fehle manchmal, sagt Osita Huber. „Kilian würde verhungern, wenn wir nicht für ihn einkaufen und kochen würden.“

„Wir sind auf
uns gestellt“

Osita Huber weiß gar nicht, was schlimmer ist: die schwere Krankheit, die den 21-Jährigen in die Isolation getrieben hat, oder die diskriminierende Haltung mancher Mitmenschen. Wie das Leben mit einem schwerst neurologisch Kranken sei, „das will kaum einer hören“. „Wir sind auf uns gestellt, denn diese Krankheit fällt aus dem System.“ Long- und Post-Covid mit dem Fatigue-Syndrom habe jedoch das Bewusstsein für dieses seltene Leiden als Folge einer Viruserkrankung gestärkt, stellt Osita Huber fest. Auch ihr Sohn hatte sich in der Pandemie mit Corona infiziert, was zu seinem bisher schlimmsten Gesundheitszustand führte, zum totalen Zusammenbruch.

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