Einöden – „zum Aussterben verdammt“

von Redaktion

Brenner-Nordzulauf ruiniert Altersvorsorge und zwingt junge Menschen zu Landflucht

Flintsbach – „Ihr seid zum Aussterben verdammt.“ Eine Aussage, die die Menschen in Einöden (Gemeinde Flintsbach) schockiert. So oder ähnlich soll sie ein Planer der Deutschen Bahn gemacht haben. Ob er es wirklich so gemeint hat? Man weiß es nicht. Zumindest ist seine Botschaft bei den Menschen übereinstimmend so angekommen: „Ihr seid zum Aussterben verdammt.“ Die Einwohner von Einöden. Für sie gibt es keine rote Liste.

Weit vor Baubeginn des Brenner-Nordzulaufs scheint sich diese Prophezeiung zu bewahrheiten. Die ersten Familien müssen Abschied nehmen von ihren Kindern. Sie gehen fort. Für sie ist das Einöden der Zukunft kein Platz mehr zum Leben.

Nach 500 Jahren
fehlt jede Perspektive

Seit 500 Jahren leben die Menschen in Einöden im engen Tal zwischen Wildbarren und Inn. Seitdem wurde für jede Generation neu gebaut, um Platz zu schaffen für Kinder, Enkel und Urenkel. Heute leben elf Familien in Einöden – 30 Einwohner. Die Siedlung wird von Einödbach, Bahnstrecke, Autobahn, Altwasser und Auwald begrenzt. Es ist beschaulich hier: Mit kleinen Straßen, nur ein paar Schritten von Haus zu Haus. Mit viel Grün und Platz für die Familie. Zig Generationen haben ihr Leben hier verbracht. Gundi Straßer (79) gehört heute zu den Großmüttern. Sie ist glücklich, dass Tochter Andrea (55) und deren Mann Christoph Wagner (52) direkt nebenan ihr Haus gebaut haben, sie die Enkel Seppi und Magdalena um sich hat.

Im Inntal bei Einöden
ist es viel zu eng

Wie alle Familien der kleinen Ansiedlung haben sich die Wagners auf dem 250 Meter schmalen Streifen zwischen Bahndamm und Autobahn A93 mit all den Baustellen arrangiert, die die Jahre mit sich brachten: Für ihre Vorfahren war es noch der Bau der Bahnstrecke, in der Neuzeit waren es der Bau der A93, die Verlegung der Öl- und Gasleitungen, der Stromtrasse und der Bau der Innstaustufe. „Wir haben unseren Beitrag zur Landesentwicklung schon in großem Maße geleistet“, sagt Christoph Wagner.

Jetzt aber wird es zu eng an der engsten Stelle des Inntales: Der Brenner-Nordzulauf soll keine 100 Meter von ihrem Haus entfernt gebaut werden. Aus dem Sattelbergtunnel kommend wird die Trasse am Fischbacher Gletschergarten auftauchen, im offenen Trog gebaut, bei Fertigstellung mit einem Deckel versehen und parallel zur Autobahn bis zum Campingplatz führen. Dort beginnt die oberirdische Verknüpfungsstelle Kirnstein, die auf zwei Kilometern bis zum Schindelberger See in Niederaudorf führt, wo sie wieder in einen gedeckelten Trog abtaucht. Die bestehende Bahnstrecke wird von Laar aus zur Neubau-Hochgeschwindigkeitsstrecke an der Autobahn geführt. Dafür muss der Einödbach überquert und während der Bauzeit verlegt werden. Die Inn-Auen um Einöden herum werden komplett umgegraben und sich über Jahre in eine Großbaustelle verwandeln.

Die Felder rund um Einöden werden für die Baustelleneinrichtung gebraucht: Auf 26 Hektar sollen Zwischenlager für Abraum und Material, Container und Parkplätze, Werkstätten, Betonmischanlagen und Aufbereitungsanlagen Platz finden. Da die Bahn den anfallenden Abraum „so weit wie möglich zur Herstellung der Strecke selbst einsetzen will“, wie im Dialogforum erklärt wurde, dürften die Einwohner von Einöden künftig nicht mehr auf den Heuberg oder Wildbarren blicken, sondern auf Abraumhalden.

Keine zwei Kilometer weiter – in Kirnstein – werden weitere 13 Hektar Land für einen Verladebahnhof gebraucht. Die Landwirtschaft muss weichen. Stattdessen entstehen Bautrassen, Förderbänder, eine Anbindung an die Autobahn A93 und mehrere Rangiergleise, damit der Baustellenverkehr die Bestandsstrecke nicht blockiert.

Es gibt aber auch gute Nachrichten für Einöden, zumindest aus Sicht der Deutschen Bahn: „Im Bereich Einöden ist kein Abriss von Wohneigentum erforderlich.“ Die Lebensqualität der Menschen wird sich mit Baubeginn allerdings schlagartig ändern, denn die Planungen, die in der Theorie großräumig und weitläufig klingen, sind nur einen Steinwurf von ihren Häusern entfernt. Bis auf 50 Meter rücken Großbaustelle und Baustelleneinrichtungen an ihre Häuser heran und kesseln sie förmlich ein: In den nächsten 15 Jahren muss die grüne Oase Bergen aus Dreck und Staub weichen – dem Aushub aus dem Sattelbergtunnel, Betonmischanlagen, viel befahrenen Baustraßen und Förderbändern.

Überleben inmitten
einer Großbaustelle

„24/7/365 – Lärm, Dreck, Staub und Licht“, beschreibt Irmi Rieder die neue Lebensqualität der elf Familien in Einöden und fragt sich: „Wie soll man inmitten einer Großbaustelle überleben?“

Die „technisch geeigneten Flächen für Baustelleneinrichtung und Materialzwischenlager“, verplante die Deutsche Bahn über die Köpfe der Grundstücksbesitzer hinweg. Das große Feld im Norden von Einöden gehört zum Hof von Hans (63) und Irmi Seckler (63). Ihre Kinder haben schon das Weite gesucht. „Eigentlich wollten sie unseren Hof ausbauen, aber das wäre schlecht investiertes Geld“, sagt Hans Seckler. Er ist traurig, aber gefasst. Sein Lebenstraum von einer generationsübergreifenden Familiengemeinschaft ist geplatzt. So wie der seiner Nachbarn. Irmi Rieder (60) kann die Tränen kaum zurückhalten. „Wir haben unser Leben lang all unsere Ersparnisse in Haus und Grundstück gesteckt – als Altersvorsorge und für unsere Kinder. Wir haben alles in den Sand gesetzt.“

Familie Wagner baute 2022 eine neue Hackschnitzelheizung ein. Ein Jahr später gab die Deutsche Bahn die Lage der Baustelleneinrichtungen bekannt. Jetzt investiert in Einöden keiner mehr in sein Haus.

Die nächste Generation steht in den Startlöchern. Die Wagners wollten umbauen – für Kinder und Enkel. Doch wird es in Einöden überhaupt noch Enkel geben? Die letzten „Kinder“ warten ab, beobachten die Entwicklung. Zwar erscheint bei der Haushaltslage der Bundesregierung der Gedanke nicht abwegig, dass für den Brenner-Nordzulauf kein Geld mehr da sein wird. Doch bei aller Hoffnung spricht Pia Rieder (24) auch eines klar aus: „Ich bin hier zu Hause, möchte auch nicht weg, aber ich werde meine Kinder nicht auf einer Baustelle großziehen.“ Das will auch Magdalena Wagner (24) nicht. Die beiden jungen Frauen sind von Kindesbeinen an beste Freundinnen. Heute sind sie Kommunikationsexpertin und Industriekauffrau, haben in der Region Arbeit, könnten bleiben. „Wir hatten hier eine traumhafte Kindheit. Genau so wünschen wir es uns auch für unsere Kinder“, sagt Magdalena. Doch mit dem Brenner-Nordzulauf hat sich alles verändert: Er vertreibt die Jugend vom Land.

Sollen sie abwarten, bis der Brenner-Nordzulauf an Einöden vorbeigezogen ist? „Nach 15 oder 20 Jahren kehrt keiner mehr zurück“, spricht Vater Christoph Wagner die bittere Wahrheit aus. Sein Sohn Seppi ist Speditionskaufmann und wollte den landwirtschaftlichen Nebenerwerb weiterführen. Doch wird für ihn in Einöden künftig noch Platz sein? Darauf gibt es momentan keine Antwort, denn erst mit der Entwurfs- und Genehmigungsplanung wird „eine flurstücksscharfe Angabe“ der wirklich benötigten Flächen vorliegen, sagt die Bahn. Spätestens dann wird sie bei den Wagners, Secklers, Rieders und all den anderen Familien in Einöden zum ersten Mal für persönliche Gespräche anklopfen. Spätestens dann werden ihre Unterschriften gebraucht, damit die Bahn ihr Land für die Trasse und ihre Begleiteinrichtungen nutzen darf.

Wie lange es dauern wird, ehe die gepachteten Flächen rekultiviert sind, wie hoch eine Entschädigung oder Pacht sein wird, stehe noch nicht fest, sagt die Bahn. Für die betroffenen Flächen würden in der Genehmigungsplanung Gutachten angefertigt und auf deren Basis dann Entschädigungen ermittelt.

Planen können die Menschen in Einöden mit solchen Informationen nicht. Doch sie wissen längst, dass ihre Häuser nichts mehr wert sind. Vor der Brenner-Trassenauswahl wurden 1400 Quadratmeter Grund in Einöden in reizvoller landschaftlicher Lage, mit einem voll unterkellerten Gebäude mit 150 Quadratmetern Wohnfläche plus Garagen noch für etwa eine Million Euro gehandelt. „Jetzt sind unsere Häuser nichts mehr wert, bieten Spekulanten vielleicht 125000 Euro“, hat Christoph Wagner erfahren.

„Mit dem Geld könnten wir uns nicht mal eine winzige Wohnung kaufen. Und für eine Miete reicht dann möglicherweise nicht einmal mehr unsere Rente“, macht Irmi Rieder die Misere klar. Wer in Einöden in Immobilien als Altersvorsorge investiert hat, steht vor dem Nichts: „Wo sollen wir hin? Wir haben gar keine andere Chance, als hierzubleiben.“

Seit Monaten können die Menschen kaum mehr schlafen. Die Sorge um die Zukunft hält sie wach, macht sie mürbe. Und wieder ist es die Gemeinschaft, die einander hilft. „Darüber zu reden, erleichtert“, sagt Sigi Rieder (56), der sich seine Rente als Imker und Gartler anders vorgestellt hat, als in einer grau-braunen Einöde aus Abraum und Baugruben. Trauer und Verzweiflung mischen sich mit Wut. „Darüber, dass den Menschen die Lüge aufgetischt wird, dass wir eine Neubaustrecke brauchen, um die Staus auf den Autobahnen nach Österreich zu vermeiden“, ärgert sich Rieder. Dabei könnte viel mehr Verkehr längst von der Straße auf die Schiene verlagert sein, würde die Bahn die Bestandsstrecke auslasten. „Ihre Kapazität wird zwar weitaus höher eingeschätzt, aber wir wissen, dass vor Jahren hier schon 220 Züge pro Tag gefahren sind. Aktuell wird die Trasse nur mit 165 Zügen in ÖPNV und Personenfernverkehr mit ICE sowie Güterverkehr genutzt“, erklärt Benno Schmid, Biobauer vom Kirnstoana Hof, Flintsbacher Gemeinderat und Mitstreiter im Bürgerforum Inntal.

Verkehr kann jetzt
schon auf die Schiene

Für die Brenner-Hochgeschwindigkeitstrasse werde allein auf den vier Kilometern zwischen Fischbach und Niederaudorf eine einzigartige, ursprüngliche Natur vernichtet, wie sie entlang des Inns kaum mehr zu finden sei. „Außerdem geht die Hälfte der 150 Hektar landwirtschaftlichen Fläche zugrunde. Etwa 20 Landwirte müssen aufgeben. Die familiären bäuerlichen Strukturen werden zerstört. Was bleibt, sind vielleicht noch ein bis zwei große landwirtschaftliche Betriebe“, macht Schmid klar.

Mit dem Brenner wird
Autobahn nicht leerer

Trotzdem werde das milliardenschwere Bahnprojekt den Lkw-Transitverkehr nicht drosseln, widerspricht Sigi Rieder einer der Falschinformationen, denen die Menschen seiner Meinung nach aufliegen: „Die gesetzlichen Rahmenbedingungen müssen verändert werden, damit der Verkehr von der Straße auf die Schiene verlagert wird. Allein die niedrige Brennermaut produziert pro Jahr einen Umwegeverkehr von 800000 Lkw.“ Der Imker „rettet die Bienen“ nicht mit einer Unterschrift, sondern mit seinem täglichen Tun. „Doch die werden in Zukunft nur noch Staub fressen“, deutet er auf die Auswirkungen des Brenner-Projektes auf die Umwelt hin: „Wertvolle Landschaft wird zerstört und der Schaden fürs Klima in 100 Jahren nicht kompensiert.“

Der Mensch ist
nicht schützenswert

Die Einwohner von Einöden wollen nicht als „Blockierer“ dastehen. Aber sie wollen aufrütteln und Fragen stellen. Danach, ob der Staat sich des privaten Eigentums bemächtigen darf, ohne dafür einen realistischen Ausgleich anzubieten. „Und danach, ob das im Grundgesetz verankerte Recht auf körperliche Unversehrtheit einfach ignoriert werden darf, und ob Bäume, Pflanzen, Hasel- oder Fledermäuse schützenswerter sind als der Mensch“, sagt Irmi Rieder.

Mit dem Brenner-Nordzulauf geht in Einöden nach 500 Jahren eine Tradition zu Ende: Gundi Straßer ist eine der letzten Großmütter, die ihre Enkel aufwachsen sehen darf. Die Großeltern von heute – Andrea und Christoph Wagner, Irmi und Sigi Rieder, Hans und Irmi Seckler – stellen sich darauf ein, allein alt zu werden, weil ihre Heimat zum Aussterben verdammt ist.

Weitere Fotos und Einblicke in die Planungswerkstatt der Deutschen Bahn auf ovb-online.de.

Artikel 1 von 11