Filmreife Kindesentführung

von Redaktion

Täter soll Elfjährige in Kiste gesperrt und im Wald ausgesetzt haben

Traunstein/Mühldorf – Dem 58-jährigen Diplompsychologen Bernd W., zuletzt in Mühldorf lebend, liegt vor der Zweiten Jugendkammer am Landgericht Traunstein mit Vorsitzender Richterin Jacqueline Aßbichler neben Missbrauchstaten in Regensburg eine fast filmreife Straftat zur Last. Er soll im Herbst 2014 ein elfjähriges Mädchen in Tschechien in eine Holzkiste in seinem Pkw gesperrt und es 30 Kilometer entfernt in einem Wald an Händen und Beinen mit Kabelbindern gefesselt ausgesetzt haben. Das Kind konnte unverletzt gerettet werden. Staatsanwältin Helena Neumeier sieht in dieser Tat einen „Menschenraub“. Der Angeklagte selbst äußerte sich gestern während der Verhandlung überhaupt nicht zu den Vorwürfen.

Spurensuche
bis nach Indien

Die Anklägerin beschuldigt Bernd W. auch eines Kindesmissbrauchs. In Regensburg, wo der 58-Jährige studiert und zeitweise gelebt hatte, soll er am 2. September 2003 nachmittags in der Baltenstraße zwei Kinder, eine Vier- und eine Sechsjährige, angesprochen haben. Sie seien „zwei so bildhübsche Mädchen“. Er sei Fotograf und wolle Bilder von ihnen machen. Die Kinder hatten nichts dagegen. Dann soll der Angeklagte der Vierjährigen fünf Euro, der anderen etwas weniger Geld gegeben haben – mit der Aufforderung, Hose und Unterhose herunter zu ziehen. Nur das jüngere Kind folgte der Anweisung. Dann soll der „Fotograf“ an der Scheide der Kleinen manipuliert haben. Dabei schoss er mehrere Fotos. Darüber hinaus dreht sich der siebentägige Prozesse um Unmengen von kinderpornografischen Schriften und Videos.

Bernd W. wurde, damals noch Lkw-Fahrer, bereits 1995 wegen Missbrauchs von Kindern verurteilt. Diese Vorstrafe steht allerdings nicht mehr im Bundeszentralregister, wie die Vorsitzende Richterin bekannt gab. Einen Überblick über die Ermittlungen lieferte ein Sachbearbeiter der Kripo Mühldorf. Dabei spielte der Zufall offenbar eine große Rolle. 2013 ließ die Universität diverse Spinde öffnen. In einem lagen CDs und DVDs mit mehr als 20000 kinderpornografischen Bildern sowie Kleidungsstücke, die dem Angeklagten über Genspuren und Fingerabdrücke zugeordnet werden konnten. Auf den Dateien waren Fotos von den Kindern in Regensburg von 2003. Über die Bildmotive konnte der Tatort fixiert werden. Die Kinder, inzwischen zehn Jahre älter, wurden 2013/14 erneut von der Kripo Regensburg vernommen. Im Oktober 2015 folgte nach Worten des Polizeizeugen eine Durchsuchung der Wohnung des Psychologen in Landshut, der gerade nach Mühldorf umgezogen war. In seinem Landshuter Domizil stieß man auf Datenträger mit Zigtausenden von Kinderpornofotos und -videos. Vier Tage später wollte man den Angeklagten in seiner neuen Wohnung in Mühldorf aufsuchen. Doch der Angeklagte war nirgends aufzufinden. „Die zentrale Frage war: Wo befindet sich der Mann?“, schilderte der Kriminalbeamte vor Gericht. Am 18. Oktober 2015 hatte Bernd W. quasi als letztes Lebenszeichen Geld an einem Automaten in Erding abgehoben. Eine Zielfahndung des Bayerischen Landeskriminalamts ergab: Er war zwischenzeitlich in Indien. Über Katar war er am 19. Oktober 2015 nach Bengalore geflogen.

Zeitweise lebte der Angeklagte offenbar auch in Wörth an der Isar, wo er 2009 laut Polizei Kinder fotografierte. Durch eine 2014 aufgetauchte Kamera konnten diese Kinder ebenfalls identifiziert werden. Bei den Ermittlungen im Oktober 2015 suchten Fahnder den damaligen Arbeitgeber in Waldkraiburg auf, bei dem der Angeklagte sich krank gemeldet hatte. Sein Auto stand bei seiner Verlobten. Das alte Fahrzeug wurde beschlagnahmt und später verschrottet. Der Wagen war den Behörden in Tschechien bekannt – durch Überwachungsvideos vom 4. September 2014 in der Stadt Obrnice.

Gemäß Anklage hatte der Diplompsychologe die Elfjährige auf deren Heimweg auf einem menschenleeren Parkplatz angesprochen, sie zu seinem VW Golf bugsiert, ihr von hinten den Mund zugehalten, die sich Wehrende in die Holzkiste im Kofferraum gezwängt und die Kiste zugesperrt. Das Mädchen hatte Glück und konnte von der Kiste aus per Notruf mit dem Handy die Polizei um Hilfe bitten.

Als der Entführer merkte, dass das Kind telefonierte, fuhr er in einen Wald, holte das Kind heraus, fesselte es schmerzhaft und fuhr davon. Das Opfer blieb allein zurück und konnte sich glücklicherweise selbst befreien. Die Polizei fand später in dem Fahrzeug keine Spur mehr von der Kiste, stieß jedoch auf die von der Elfjährigen beschriebenen hellen Alufelgen.

Eingehende Ermittlungen führte die Kripo Mühldorf zum Vorleben des 58-Jährigen. Er war demnach an der Universität Regensburg immatrikuliert, schloss mit der Note 1,8 als „Diplompsychologe univ.“ ab. Er arbeitete in verschiedenen Sparten in der Erwachsenen-, Kinder- und Seniorenbetreuung, war in einer Familienberatungsstelle, in einem Kinderheim, an einer Krankenpflegeschule und freiberuflich tätig. In einem Arbeitszeugnis wurde er 2003 als „krankenpflegerischer Assistent im ambulanten Dienst“ für seine „stets vorbildliche Arbeit“ gewürdigt. Beim BFZ Waldkraiburg wirkte der Mann als Diplompsychologe, ebenso in der Lebensberatungsstelle der AWO im thüringischen Hildburghausen.

Prozess wird Ende
März fortgesetzt

Was in Indien geschah, kam bislang nicht zur Sprache vor der Zweiten Jugendkammer. Im Juni 2020 wurde der Angeklagte dort inhaftiert. Ende März 2022 kam er in Auslieferungshaft, seit Ende April 2023 sitzt er in der JVA Bernau in Untersuchungshaft.Die Vorsitzende Richterin bat die Verteidiger, Dr. Gunther Haberl aus Schwandorf und Isabella Komm aus München, um Klärung, ob sich der Angeklagte zu den betroffenen Kindern vor deren Vernehmung am nächsten Prozesstag am 5. März äußern wird – vor dem Hintergrund, den Opfern eine Aussage zu ersparen.

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