Schlechtes Zwischenzeugnis? „Liebe Eltern, nehmt den Druck raus“

von Redaktion

Lern-Trainerin Susanne Apitzsch-Gacia aus Ramerberg rät zu klugen Strategien gegen „Bulimie-Lernen“ und Prüfungsangst

Wasserburg/Ramerberg – Susanne Apitzsch-Gacia weiß, was es heißt, als Lehrerin vor einer Klasse zu stehen, in der viele unmotiviert oder gestresst vom Leistungsdruck sind. Die 59-Jährige hat 33 Jahre lang an einer Berufsfachschule angehende Kinderpflegerinnen ausgebildet. Sie hat Klassen geleitet, Stundenpläne aufgestellt, war stellvertretende Schulleiterin. Eine ganz normale Laufbahn als Pädagogin also. Doch dann kam die Pandemie, die auch Apitzsch-Gacia nach eigenen Angaben die Augen öffnete: „Es war wie ein Brennglas, das die Probleme des Schulsystems in einer Deutlichkeit aufzeigte wie nie zuvor“, erinnert sie sich.

„Freude am Lernen
ist oft Fehlanzeige“

Lehrer und Schüler mussten das E-Learning lernen. Viele fühlten sich überfordert. Auffällig laut Apitzsch-Gacia: das „Bulimie-Lernen“, also das schnell Hineinstopfen von Stoff, zeitgenau vor einer Prüfung, Wissen, das danach quasi wieder „ausgespien wird“, also nicht im Kopf bleibt. „Bei vielen Schülerinnen und Schülern ging es nur noch darum: Wie komme ich irgendwie durch.“ Manche hätten mit Panikattacken reagiert, einige seien dauernd krank gewesen, viele lustlos und unmotiviert. „Freude am Lernen: oft Fehlanzeige.“

Die Ramerberger Musik- und Bewegungspädagogin stieg aus: Sie absolvierte eine Ausbildung zum Lerncoach. Jetzt lehrt sie das Lernen, in ihrem eigenen Campus daheim, bei Klienten analog und online sowie bei der „Jungen Arbeit Rosenheim“ und bei der Volkshochschule Wasserburg. Dabei vermittelt sie ihren „Coachees“, wie sie ihre Schüler nennt, zuerst vor allem eins: „Ich kann kein Englisch. Ich werde Mathe nie verstehen. Das bekomme ich nie in meinen Kopf. Diese negativen Glaubenssätze sind tabu.“ Apitzsch-Gacia schaut nicht auf die Defizite, sondern auf die Talente. Denn: „Jeder kann was richtig gut. Und jeder hat Potenziale.“ Sie zu wecken, sei wichtig, denn es stärke das Selbstbewusstsein. Doch viele Menschen, die schlechte Bildungserfahrungen gemacht haben, können sich nur schwer einschätzen, stellt Apitzsch-Gacia ebenfalls fest.

Sie helfe auch anhand eines Abfragepools, Fähigkeiten zu entdecken – was ihr als Person von außen oft leichter falle als beispielsweise engen Kontaktpersonen. „Was möchtest du können?“, laute dann in der Regel eine wichtige Frage. „Wir formulieren gemeinsam Ziele. Das kann auch der Wunsch sein, sich länger konzentrieren zu können“, nennt sie als Beispiel. Vorwärts gehe es dann oft in kleinen Schritten. Um beim Beispiel zu bleiben: Wer sich nur eine halbe Stunde konzentrieren könne, nehme sich vor, es für eine Stunde zu schaffen. „Das Ziel sollte realistisch sein.“ Bei einem Jugendlichen, der an der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) leide, könne auch schon zehn Minuten still am Platz zu arbeiten ein großer Erfolg sein. Viele Schülerinnen und Schüler, Azubis und Studierende haben nach Erfahrungen von Apitzsch-Gacia außerdem Probleme beim Zeitmanagement. Andere sitzen an einem Lernplatz, der keine optimalen Rahmenbedingungen bietet: im Wohnzimmer, wo der Fernseher läuft, an einem Schreibtisch, der nicht ausreichend ausgeleuchtet ist. Sie trinken nicht genug, gehen zu spät ins Bett, schlafen zu wenig, lassen sich leicht ablenken von äußeren Einflüssen, berichtet sie.

Größtes Problem:
Die Motivation

Doch das größte Problem ist die Motivation, findet die Pädagogin. Wer wenig Sinn in dem sehe, was er lerne, weil ihn der Stoff nicht interessiere oder Ausbildung und Studium keine Freude bereiten würden, der tue sich schwer, sich hineinzuknien. Großes Thema ist außerdem die Prüfungsangst: Apitzsch-Gacia versucht, Sicherheit zu vermitteln, das Selbstwertgefühl zu stärken. Und bringt ihren Schülerinnen und Schülern auch Gesten mit Symbolkraft bei: „Wir üben vorher, laut zu sagen: Ich schaffe das. Das kann ich auch durch meine Körperhaltung ausdrücken – indem ich mich aufrecht hinstelle und auf die Brust trommle. Das klingt albern, aber es wirkt“, sagt sie schmunzelnd.

Trotzdem legt sie als Lerncoach Wert auf die Feststellung: „Ich bin keine Feuerwehr.“ Unter Zeitdruck könne sie keine Wunder bewirken. Und auch niemanden durch die Prüfung pauken. Das Lernen zu lernen funktioniere nur als langfristig angesetztes Ziel mit ganzheitlichen Methoden. Dass es klappt, dafür hat Apitzsch-Gacia Beispiele: Etwa die Schullaufbahn eines 16-Jährigen, die sich komplett gedreht habe Richtung Erfolg, die Prüfung einer jungen Frau, die sie dank bewältigter Ängste doch geschafft hat. Das macht Sinn, auch weil Menschen heutzutage lebenslang lernen müssen, ist die Ramerbergerin überzeugt. Kein Beruf ohne Schulungsbedarf, kein Lebensabschnitt ohne Notwendigkeit, sich etwas Neues beizubringen. „Das kann auch privat so sein, etwa weil jemand ein Instrument spielen oder endlich gut backen können möchte.“ Mit der richtigen Grundhaltung klappt es, ist die Lerncoaching-Fachkraft überzeugt. Sie weist außerdem darauf hin, dass bei diesem Prozess auch Fehler wichtig seien. „Zum Erfolg scheitern“, nennt sie dies. Wichtig sei es, dass Menschen freundlich mit sich selber umgehen oder Erziehungsberechtigte ihre Kinder nicht nur auf der Basis der Schulnoten betrachten würden. „Liebe Eltern, nehmt den Druck raus“, so ihr Appell. Auch Schule sollte sich ändern, findet sie in diesem Zusammenhang. Ihr Wunsch: mehr Individualität, mehr persönliche Betreuung, weniger Noten- und Leistungsdruck. Heike Duczek

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