„Die Schuld liegt nicht nur beim Bauern“

von Redaktion

Interview Fachärztin Karen Hendrix über Missstände in Ställen und deren Ursachen

Söchtenau/Rimsting/Simbach am Inn – Es war ein Fund, der schockierte: Auf einem Bauernhof in Söchtenau wurden kürzlich 400 tote Hühner entdeckt. Vergangenes Jahr sorgten furchtbare Zustände in einem Rimstinger Bauernhof für Entsetzen in der Region. Für Psychiaterin Karen Hendrix sind Vorfälle wie diese oftmals eine direkte Folge der seelischen Belastungen der Landwirte. Hendrix arbeitet an der Psychosomatischen Klinik Simbach am Inn und leitet dort eine Gruppe für Belastungen in der Landwirtschaft. Zudem betreibt sie eine eigene Praxis für Psychotherapie mit dem Schwerpunkt Landwirtschaft. Wie es zu Fällen wie denen in Söchtenau und Rimsting kommen kann, erklärt sie im Gespräch mit den OVB-Heimatzeitungen.

Warum setzen sie in Ihrer Arbeit einen Schwerpunkt auf Landwirte?

Ich stamme aus einer eher bürgerlichen Familie, wobei die Seite meiner Mutter landwirtschaftslastig ist. Schon als kleines Kind verbrachte ich meine Tage im Stall und bei den Kühen, denen meine Liebe gilt. Als ich nach Niederbayern zog und dann auch meinen Partner kennenlernte, der einen Milchviehvollerwerb hat, absolvierte ich das Bildungsprogramm Landwirt (BiLA) mit Schwerpunkt Milchvieh und Ackerbau. Zudem wurde ich in meiner ärztlichen Tätigkeit immer wieder mit Suiziden in der Landwirtschaft konfrontiert, sodass ich mich ab 2014 intensiv damit auseinandergesetzt habe. Das führte zu meiner heutigen Tätigkeit, der Behandlung von Depressionen und Burn-out unter Landwirten.

In einem Stall in Söchtenau wurden kürzlich 400 tote Hühner gefunden. Im vergangenen Jahr machten die entsetzlichen Zustände in einem Stall in Rimsting Schlagzeilen. Wie kommt es zu solchen Fällen?

So wie es verschiedene Menschen gibt, gibt es auch verschiedene Landwirte. Viele Landwirte kümmern sich wirklich sehr gut um ihre Tiere. Aufgrund von Überforderung kommt es jedoch nicht selten vor, dass auch die verantwortungsvollsten Bauern in eine Depression verfallen. Manche liegen dann nur noch im Bett, gehen nicht mehr aus dem Haus und sehen keinen Menschen mehr, bevor sie ihre Tiere vernachlässigen. Doch irgendwann fehlt dann auch für die Versorgung der Tiere jegliche Energie. Schließlich kann der Bauer das Elend nicht mehr ertragen und schließt die Tür. Tragisch daran ist, dass das Umfeld nichts mitbekommt oder mitbekommen will. Irgendwann kommt doch mal was auf und das Entsetzen – und auch die öffentliche Empörung – sind groß.

Worin liegt die Ursache dieses Problems?

Das Problem fängt bereits in der Gesellschaft an. Bauern werden nicht mehr als Produzenten hochwertiger Lebensmittel wahrgenommen, sondern als Umweltverschmutzer, Tierquäler und „Besitzer“. Gesellschaftliche Abwertung und überbordende Bürokratie sowie absolut fehlende Planungssicherheit sind aktuell die Hauptbelastungen für Landwirte. Die Freude an der Arbeit geht verloren, die eigenen Interessen werden vernachlässigt und trotz immer mehr Arbeitseinsatz und Engagement ist keine Besserung der Situation in Sicht. Zunehmende Depression kann die Folge sein, der Verlust der Lebensfreude, sozialer Rückzug, Energieverlust und Kraftlosigkeit – bis hin zu Suizidgedanken.

Wie kann die Gesellschaft da helfen?

Letztendlich muss sich gesellschaftlich was ändern. Wir alle wollen Tierwohl und gesunde Lebensmittel. Wenn die Leute so, wie immer gefordert, Bio auch tatsächlich kaufen würden, bräuchte es viele Gesetze und Regulierungen nicht, denn der Markt und damit auch das Angebot der Landwirte passen sich dem Verbraucherverhalten an. Aber wie viele Leute konsumieren nur billigste Ware, ohne jede Herkunftsbezeichnung? Unter Landwirten heißt es: Den Grill für 1000 Euro und das Kilogramm Fleisch darauf möglichst für 99 Cent. Lebensmittel – auch Fleisch – werden im Restaurant bedenkenlos zurückgegeben oder zu Hause aus dem Kühlschrank raus entsorgt. Dafür ist ein Tier gestorben – aber das ist in dem Moment wohl egal. Unsere Gesellschaft muss Landwirte, ihre Arbeit und ihre Produkte unbedingt mehr wertschätzen.

Wenn man den Eindruck hat, dass ein Landwirt Hilfe braucht, wie kann man dann am besten helfen?

Es wäre schön, wenn die Gesellschaft, und damit sind auch Kirche und Dorfgemeinschaft gemeint, besser hinschaut. Ställe mit toten Tieren werden nicht nur auf Einzelhöfen, sondern auch in der Nähe viel frequentierter Wander- und Radwege gefunden. Tiere melden sich, wenn sie Hunger haben. Laut und nachdringlich. Das kann man nicht überhören. Die meisten fühlen sich aber nicht angesprochen. Da kommt jemand nicht mehr zum Einkaufen, das Auto wird im Dorf nicht mehr gesehen – und niemand wundert sich? Unsere Gesellschaft, und damit jeder Einzelne, sollte sich auch um seinen Nächsten sorgen. Einfach mal hingehen, nachfragen, aufmerksam sein. In Deutschland ist alles gesetzlich reguliert, aber dabei ist die Menschlichkeit leider untergegangen. Interview: Andreas Reichelt

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