Rimsting/Rosenheim – Als der Albtraum über den Bildschirm flimmert, mag Leopold G. (51) nicht hinsehen. Der Mann starrt auf den Boden, ringt die Hände, macht sich unter der Tischplatte an seinem Rucksack zu schaffen.
Alles, um diese Bilder nicht sehen zu müssen: die Aufnahmen von Tieren, die bis zum Bauch in Gülle waten, von verdreckten und abgemagerten, von toten und verwesenden Tieren. Von Kälbern auch, deren Körper von der ätzenden Jauchebrühe zu matschigen Klumpen zersetzt worden waren. „Das hab ich so noch nicht gesehen“, sagte ein Amtstierarzt, der am Amtsgericht Rosenheim aussagte. Im Prozess um den „Horrorstall von Rimsting“ muss sich Leopold G. wegen Tiertötung in 33 Fällen und wegen Tierquälerei verantworten.
Eine verheerende Abwärtsspirale
Das Geschehen lässt sich in wenigen Zeilen zusammenfassen. Der angeklagte Bauer vernachlässigte seine Tiere in seinem Bauernhof am Ortsrand von Rimsting offenbar über Wochen, wenn nicht gar Monate hinweg. Als die Behörden am späten Nachmittag des 16. Mai 2023 einschritten, konnten 97 Tiere noch gerettet werden. Sie wurden in einen Notstall im Landkreis Landsberg gebracht.
Über 30 Kühe waren zu diesem Zeitpunkt schon umgekommen. Verhungert, verdurstet, oder an Krankheiten verendet. Genau lässt sich das nicht mehr sagen, manche der Kadaver waren zu stark zersetzt, als dass die Todesursache abgeklärt werden konnte. So viel dazu, was passiert ist. Aber warum ist es passiert? Verlor der Landwirt die Kontrolle? Was warf ihn aus der Bahn? Das klärt das Amtsgericht Rosenheim derzeit ab.
Dem Landwirt machte jedenfalls allerhand zu schaffen. Von einem Gutachten, das „einige psychische Sachen“ bescheinige, sprach der Richter eingangs. Demnächst wird es in die Hauptverhandlung eingeführt werden. War der Bauer überhaupt schuldfähig? Eine „schwere psychische, psychosomatische Erkrankung“ attestierte ihm bereits ein „freundschaftlich verbundener“ ehemaliger Nachbar, zufälligerweise Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin, der am gestrigen Dienstag als Zeuge aussagte.
Der Facharzt sprach vom Angeklagten und seinen Angehörigen von „wortkargen, freundlichen Menschen.“ In dem Betrieb habe „jede Kuh ihren Namen“ gehabt. Nachdem er aus Rimsting fortgezogen sei, habe der Kontakt nachgelassen, erst aus der Zeitung habe er erfahren, was sich im Jahre 2023 in dem Stall zugetragen haben muss.
Der Mediziner schilderte, wie er danach der Tragödie auf den Grund zu gehen suchte. Der Bauer sei nicht mehr mit dem Mann zu vergleichen gewesen, den er 20 Jahre zuvor kennengelernt hatte. Ein „180 Grad anderer Mensch“ habe sich ihm im Frühjahr 2023 präsentiert, ein Mann mit „massivem Antriebsverlust“ , der nicht mehr aus dem Bett gekommen sei „und sich auch um sonst nichts mehr gekümmert hat.“
Der Landwirt habe dennoch wenig von sich preisgegeben – wie erwartet, könnte man hinzufügen. „Er hat es auch früher nicht kommuniziert, wenn er Probleme hatte“, sagte der Chefarzt. „Das ist in diesen Kreisen schlicht auch nicht üblich.“
Überforderung: Eine Berufskrankheit?
Abkapselung und Überforderung: eine Berufskrankheit bei Landwirten? In diesem Falle wirkt es ganz so. Auf der Anklagebank im Amtsgericht Rosenheim sitzt ja kein Unmensch, kein grausamer Tierquäler.
Da sitzt ein kräftiger, untersetzter Mann im Hoodie, der immer wieder verlegen blinzelt. Dann und wann spielt ein schmerzliches Lächeln um seinen Mund. Die Arme hat er die längste Zeit des zweiten Verhandlungstages vor der Brust verschränkt, als wollte er sich in sich selbst zurückziehen.
Ein auf Rinder spezialisierter Tierarzt sieht bei seiner Kundschaft öfter Warnzeichen. Überforderung? „Dieser Eindruck stellt sich mehrmals in der Woche ein“, sagte er. Bauern hätten „zu viel Arbeit, zu wenig Freizeit.“ Sie hätten zu wenig Zeit auch, sich um sich selber oder die Familie zu kümmern. Zu viel von der eigenen Person werde in den Betrieb investiert. „Und ständig müssen Landwirte bauen, weil es neue Vorschriften gibt.“ Das setze sie zunehmend unter Druck.
In Rimsting ging‘s gründlich schief. Jahr für Jahr scheint es mit dem Betrieb abwärts gegangen zu sein. Zu Beginn konnte noch der Vater des Angeklagten helfen. Seine körperlich behinderte Mutter versuchte auch danach noch, ihn zu unterstützen. Ebenso seine Schwester – doch die hatte ihren eigenen Job und überdies mit ihren körperlichen Einschränkungen schwer zu kämpfen. Am Ende stand Leopold G. ziemlich allein mit der Arbeit, mit dem Hof, mit seinen Sorgen.
Der Landwirt selbst scheint auch noch eine Pechsträhne erlebt zu haben, wie einer seiner Mieter vor dem Amtsgericht schilderte. Er wusste von einer „Verletzungsserie“ zu berichten. Der Mieter sagte auch aus, dass der Landwirt sich ab Ende 2022 mehr und mehr zurückzog. Am Ende sei er ihm wochenlang gar nicht mehr begegnet.
Mehrere Jobs für
ein Auskommen
Leopold G. litt auch unter finanziellen Sorgen. Nachdem das Veterinäramt jahrelang nur kleinere Mängel beanstandet hatte, durfte der Rimstinger seit Anfang 2022 keine Milch mehr liefern. Die beiden Konten des Landwirts waren gepfändet, kleinere Einnahmen leitete er auf ein neu eingerichtetes Konto um.
Sein früherer Nachbar, der Chefarzt, berichtete, dass der Bauer von Beginn der Bekanntschaft an „knapp bei Kasse“ gewesen sei. Er habe daher im Wald gearbeitet, Bäume gefällt, für die Familie zu Guttenberg auch Chauffeursdienste geleistet. „Ich war erstaunt, wie jemand das alles auf sich nimmt, mit so wenig Perspektive“, sagte der Arzt. „Das ist schwer verständlich für Menschen, die in gesicherten Verhältnissen arbeiten, mit Urlaub und Absicherung.“
Nachsicht mit
dem Angeklagten
Der eine oder andere Amtstierarzt schildert den Angeklagten als wenig kooperationsbereit. Die meisten Zeugen gehen aber bemerkenswert nachsichtig mit dem Angeklagten ins Gericht.
Ja, an jenem nasskalten Mai-Nachmittag im vergangenen Jahr sei der Mann gegenüber den Helfern von Feuerwehr und THW unfreundlich gewesen, aber das sei ja auch nachvollziehbar, weil seine Existenz da gerade auf Lastwagen weggefahren worden sei. Das sagt ein Feuerwehrmann. Als er den Saal verlässt, wünscht er dem Angeklagten „ois Guade“.
Genaueres wird der Rimstinger Landwirt am 25. April wissen. An diesem Tag ist am Amtsgericht Rosenheim mit dem Urteil zu rechnen.