Traunstein – Vor Kurzem sozusagen Kronzeuge, nun selbst vor dem Richter: Der 24-jährige Hauptbelastungszeuge im Mordprozess um den gewaltsamen Tod von Hanna W. in Aschau musste sich am Landgericht Traunstein nun wegen einer Reihe von Sexualdelikten verantworten. Nun fiel das Urteil.
Eine Dreiviertelstunde lang trägt Staatsanwältin Helena Neumeier aus der Anklageschrift vor. Es ist eine Lesung mit ruhiger Stimme, die einem Blick in die Abgründe des Cyber-Raums gleichkommt. Es geht um Verbrechen, die es früher nicht gab: das Anbaggern und Gefügigmachen sowie den Missbrauch übers Internet, überwiegend von Jugendlichen und Kindern. „Sexueller Missbrauch von Kindern ohne Körperkontakt mit dem Kind“ nennt das der Gesetzgeber.
Kinderpornografie:
Bundesweite
Ermittlungen
Cyber-Grooming ist der landläufige Begriff dafür. Und genau das wirft Helena Neumeier einem jungen Mann vor, der kürzlich in einem großen Prozess eine wichtige Rolle gespielt hat: Er ist der JVA-Zeuge, der Sebastian T. im Eiskeller-Prozess schwer belastet hat. Als der Mithäftling, dem T. den Mord an Hanna gestanden haben soll. In einer Reihe von Fällen, 15 sind in der Anklageschrift genannt, soll sich der Angeklagte (24) an Kinder herangemacht haben. Von insgesamt „50 Geschädigten“ spricht später gar eine Zeugin der Polizei, bundesweit habe man dazu ermitteln lassen. Der Angeklagte habe dazu Kanäle wie Whatsapp oder Snapchat genutzt, um übers Smartphone seine Zielpersonen anzutexten, angefangen bei Mädchen im Alter von zehn Jahren, die ihm Fotos schicken sollten. Er sei dazu seinerseits in die Rolle eines Mädchens geschlüpft, habe seine Opfer unter Druck gesetzt, unter anderem mit der Drohung, die erhaltenen Fotos öffentlich zu machen. Eine erbärmliche Masche.
Während der Verlesung der Anklageschrift senkt der Angeklagte den Kopf, starrt auf die Tischplatte. Danach spricht er. Er gestehe das alles, sagt er. „Es ist nicht zu rechtfertigen, durch nichts, auch wenn ich eine schlechte Kindheit hatte.“ Auch der Angeklagte hat eine Geschichte. Eine Geschichte, die nichts entschuldigt, manches aber vielleicht erklärt.
Von seiner Mutter sei er missbraucht und vergewaltigt worden, erzählt er mit brüchiger Stimme. „Ich hätte wissen müssen, dass ich das nicht auch anderen antun darf – nur, ich hab mich als Opfer gesehen.“ Er mag beschlossen haben, reinen Tisch zu machen. Manchmal gewinnt aber Scham oder List die Oberhand. Staatsanwältin Neumeier kauft ihm nicht ab, dass er nicht in erster Linie aus sexuellen Motiven gehandelt haben will.
Was sagt das über den Gehalt seiner Aussage gegen Sebastian T. im Mordfall Hanna? Das Gericht entscheidet nicht über den vorangegangenen Prozess. Vorsitzender ist Dr. Ralf Burkhard, nicht – wie im Fall zuvor – Jacqueline Aßbichler. Nur ein Zeuge, Oberstaatsanwalt Dr. Rainer Vietze, erwähnt die Aussage des Angeklagten im Hanna-Fall. Sein Zeugnis ist gewichtig, aber kurz. Der 24-Jährige habe seine Bürgerpflicht erfüllt, sagt Vietze, die Aussage sei wichtig gewesen. Er habe sie ohne Rücksicht auf eigene Gefährdung im Gefängnis getätigt.
Juristisch sind beide Komplexe streng getrennt. Aber natürlich schwingt bei Beobachtern auch die Frage mit: Hat man diesem Mann vertrauen dürfen, als man Sebastian T. zu neun Jahren Haft verurteilte? Angehörige von T. sitzen auch bei dieser Verhandlung im Publikum. Sie schreiben mit, wie seinerzeit beim Hanna-Prozess. Später, Verteidiger Michael Vogel aus Traunstein hält gerade sein Plädoyer, ein Überraschungsgast: Anwältin Regina Rick rauscht in den Saal, hinter ihr knallt die Tür ins Schloss.
Einen notorischen Lügner. So hatte Verteidigerin Regina Rick den jungen Mann im damaligen Mordprozess genannt. Das ist der Angeklagte offenbar nicht. Insgesamt wirkt er überzeugend. Etwa, wenn er über die Verheerungen seines Lebens berichtet. Darüber, wie ihn der Missbrauch durch die Mutter aus der Bahn geworfen habe.
Ein Gutachter bestätigt, dass er als Kind und Jugendlicher offenbar „erheblichen Belastungen“ ausgesetzt gewesen sei. Diverse Störungen – etwa seine seelische Instabilität und seine Unsicherheit in der Geschlechterrolle – seien auf die problematische Vorgeschichte zurückzuführen. Er habe vermutlich nicht immer nur Opfer sein, sondern auch mal selbst Macht ausüben wollen, führte der Experte aus.
Missbrauch, Heime, Obdachlosigkeit: das alles machte der Angeklagte durch. Auf die Beine kam er nicht, am Ende scheint die Festnahme eine Erlösung gewesen zu sein. „Was mich getrieben hat, war Wut“, erzählt er. „Ich hatte keine Ziele mehr. Das Leben wollte ich mir nehmen.“ Die U-Haft habe ihn wohl in der Tat gerettet.
Er habe dort über sich nachgedacht, habe mit Therapeuten sprechen können und auch schließlich gemerkt, dass er ein Mensch sei, der etwas wert ist. Wenn das Gefängnis die Chance zum Neuanfang gibt: War seine Aussage gegen Sebastian T. dann womöglich so etwas wie eine seelische Aufräumaktion?
Angeklagter will den
Neuanfang – aber erst
kommt die Haft
Nach eigener Auskunft bemüht er sich bereits um eine Therapiestelle nach der Haft. Am liebsten wolle er irgendwann als Schausteller arbeiten. Er habe das schon gemacht, das erzählt er, und er wirkt dabei, als sei das eine von den guten Phasen in seinem Leben gewesen.
Der Weg dorthin zurück wird sich ziehen. Vier Jahre und vier Monate, so lang muss er nach dem Urteil von Ralf Burkhard ins Gefängnis. Wie Staatsanwältin Neumeier, rechnet Burkhard dem 24-Jährigen das Geständnis an; er hielt ihm aber vor allem seine hohe kriminelle Energie und seinen Mangel an Empathie vor. Es ist ein Urteil der Mitte: Fünf Jahre und sechs Monate hatte Neumeier gefordert, drei Jahre hatte Verteidiger Michael Vogel aus Traunstein für angemessen angesehen. Burkhard war ihm zum Beispiel darin gefolgt, dass der Angeklagte bewusst und energisch einen Neustart anstrebe.
Letztlich muss der 24-Jährige höchstens drei Jahre im Gefängnis bleiben – schließlich sitzt er seit November 2022 bereits in U-Haft.