„Zum Teil keine Ahnung vom Berg“

von Redaktion

Interview Reinhold Messner über Lawinen, Verantwortung und Tourismus

Rohrdorf – Wie sicher ist der Sport in unserer Bergregion? Nach zahlreichen Lawinenunglücken, Wander-Unfällen und verunglückten Skifahrern in der Vergangenheit stellt sich diese Frage dringender denn je. Im

Gespräch mit den OVB-Heimatzeitungen erklärt die Bergsteiger-Legende Reinhold Messner, warum man im Gebirge immer eine Gefahr eingeht, was zahlreiche Sportler falsch machen und wieso er in diesem Jahr nach Rohrdorf kommt.

Es gab in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder Lawinenunglücke. Wie gut kann man die Gefahr als Bergsteiger einschätzen?

Ein Bergsteiger mit viel Erfahrung kann Lawinen schon einschätzen – aber nicht alle. Ein Restrisiko bleibt. Heute haben wir ja den Lawinenwarndienst überall und das ist schon eine große Hilfe. Aber trotzdem kann Lawinenstufe 2 sein und durch verblasenen Schnee irgendwo eine Lawine abgehen.

Es gehen auch immer mehr Menschen Skitouren. Denken Sie, dass viele zu wenig Ahnung haben oder zu unvorbereitet sind?

Ich finde es erfreulich, dass es immer mehr Skitourengeher werden. Die Menschen gehen zu Fuß, mit den Skiern in die Berge hinein und fahren dann wieder runter. Die brauchen nicht unbedingt Infrastruktur. Aber sie gehen alle in Kolonne. Viele schauen in der Früh, wo der Bergführer mit ein paar Gästen vorausgegangen ist, und dann folgen sie – und die Hinteren haben nie geschaut, wo es gefährlich ist. Die haben vor Augen gehabt, dass die Vorderen es schon richtig machen. Aber man sollte immer auf sich selbst schauen. Im Gelände bin ich selbst verantwortlich. Aber selbst verantwortlich sein heißt: Augen offen haben, Ohren offen haben und in die Natur hineinhören.

Ist das Gespür für den Sinn des Bergsteigens verloren gegangen?

Bergsteigen hat damit zu tun, dass der Mensch eine Gesetzmäßigkeit hat: Er will in erster Linie überleben. Die Natur ist absichtslos. Die Fehler macht nur der Mensch. Ich hoffe, dass die Menschen verstehen, dass es nicht wichtig ist, zum Ziel zu kommen. Sondern es ist wichtig, keine Fehler zu machen und dass man aus der Wildnis heil wieder rausgekommen ist. Wie weit ich dann gekommen bin, ist – für meine Erfahrung – völlig irrelevant.

Welche Chancen hat man, wenn man von einer Lawine mitgerissen wird?

Eine Lawine hat eine gewaltige Kraft. Wenn man gesehen hat, wie eine Lawine mit 250 Kilometern pro Stunde den Berg runterkommt, dann weiß jeder: „Wenn ich dort drin bin, habe ich keine Überlebenschance.“

Kann man sich irgendwie schützen?

Wenn ich im Gebirge bin und das Gefühl habe, dass etwas nicht stimmt, gehe ich zurück oder bleibe einmal stehen und überlege, was ich tue. Was einem aber auf jeden Fall bewusst sein muss: Wenn man ins Gebirge hineingeht, ist Gefahr vorhanden. Allein die Schwerkraft zieht Steine runter, die lose sind – oder eben Lawinenschnee und Eis. Diese Gefahren sind zu respektieren. Da nützt es nichts zu sagen, dass man alles gelernt hat und keine Fehler macht. Man kann nicht gar keinen Fehler machen. Wir Menschen sind fehlerhaft – und wer nicht am Berg umkommen will, soll nicht auf den Berg hinauf gehen.

Sie sagen, man muss sich der Gefahr im Gebirge bewusst sein. Menschen, die mit Turnschuhen auf die Zugspitze gehen, kennen die wohl nicht.

Die Leute, die mit Turnschuhen auf die Zugspitze kommen, die kommen mit der Seilbahn oder mit der Zahnradbahn. Nun ist die Zugspitze seit 100 Jahren dem Massentourismus ausgeliefert. Das ist keine Wildnis mehr, das ist nicht Natur, das ist Un-Natur. Ich bin der Meinung, dass wir ein Stück wilde Natur bewahren sollten. Auf der Zugspitze ist das nicht mehr der Fall. Besonders in den Alpen ist diese wilde Natur inzwischen stark reduziert. Sie liegen eben mitten in Europa und können leichter besucht werden als der Himalaya oder die Anden.

Das Berggehen hier in der Region besteht oft darin, unten zu parken, den Berg möglichst schnell hochzurennen, dort bestenfalls ein Foto zu schießen und dann wieder abzusteigen. Entspricht das Ihrer Vorstellung vom Berg-Erlebnis?

Sie haben jetzt gesagt: „Sie rennen den Berg rauf.“ Es geht also nicht mehr darum, dass ich den Berg in meiner Geschwindigkeit hinaufgehe. Heißt, so, wie mein Herzschlag mir das vorgibt. Wir haben ja eine ideale Geschwindigkeit, bei der wir eigentlich nicht müde werden. Aber heute wird auf den Berg hinaufgerannt. Das gab es früher nicht. Das Bergsteigen ist das Hineingehen in die Natur mit möglichst wenig Mitteln. Die deutschen Bergsteiger sagen dann am Gipfel „Berg Heil“. Ich habe das nie gemocht. Das ist mir zu martialisch. Wir haben den Berg ja nicht erobert.

Was sagen Sie stattdessen?

Ich habe „Kalipè“ von den Tibetern übernommen. Das heißt übersetzt: „Immer ruhigen Fußes“. Also immer schön ruhig, langsam, in deiner Geschwindigkeit. Das finde ich viel schöner.

Viele Bergsteiger messen sich auch über soziale Netzwerke und Apps. Jeder möchte der Schnellste sein.

Der traditionelle Alpinismus ist im Grunde die Auseinandersetzung mit Berg und Mensch – da kommt der Wettkampf nicht vor. Das ist nicht messbar. Wenn ich heute auf einen Berg steige, sind die Verhältnisse morgen andere. Es hat auch keinen Sinn, zu vergleichen. Die Kunst des traditionellen Alpinismus ist, lebendig wieder nach Hause zu kommen. Die Gefahr liegt auch darin, dass ich mich übernehme, weil ich dem Freund oder Nachbarn zeigen will, dass ich besser bin als er.

Hat die technische Entwicklung das Bergsteigen generell sicherer gemacht?

Ja, das Bergsteigen ist enorm sicherer geworden. Allein das GPS-Gerät ist eine Hilfe zur Orientierung, oder Ortungsgeräte. Ich bin ja gegen alle diese Technologien, ich benutze sie nicht. Aber alles ist besser geworden. Der Mensch will sein Habitat sicherer machen. Das ist nachvollziehbar. Aber je weniger Technologie ich brauche, umso mehr ist mein Erlebnis wert. Wenn ich also sehr viel Technologie einsetze, habe ich am Ende keine große Erfahrung gemacht. Was jetzt am Mount Everest passiert, war vor 30 Jahren nicht einmal vorstellbar.

Was genau meinen Sie?

Dass da 100 Sherpas im Vorfeld eine Piste bauen. Das ist ähnlich wie Pistenskifahren. Aber wenn ich eine Erfahrung machen will, muss ich mich der Wildnis ausliefern. Ich muss wirklich über den Gartenzaun steigen und in die Wildnis hineingehen. Von 100 Abenteurern am Everest, würde nur einer selbstständig einfach losgehen, wenn dort keine Piste wäre. Die gehen an der Piste zu Hunderten hinauf und alle Jahre sterben ein Dutzend ungefähr. Das wird auch so bleiben.

Haben die Todesfälle am Mount Everest etwas mit dem Können oder Wissen der Menschen zu tun?

Nein. Das sind weder die Schlechtesten noch die Besten. Die haben einfach Pech, dass irgendwo etwas bricht oder die Piste versagt.

Vom Mount Everest machen auch immer wieder Fotos von Müllbergen Schlagzeilen. Ist das dort auch schon Massentourismus?

Das ist Massentourismus, eindeutig. Die Bergsteiger dort haben zum Teil keine Ahnung vom Berg. Die haben keine Ahnung, dass da Gefahren sind. Die verlassen sich völlig auf die Veranstalter und gehen dann im Gänsemarsch los. Sie sehen nur die Füße des Vordermanns und hören hinter sich das Schnaufen der Nächsten. Das ist alles, was sie nach Hause bringen. Aber der Everest ist der höchste Berg der Welt. Es geht nur um den Rekord. Aber: Per definitionem ist Bergsteigen nicht in Rekorden messbar.

Warum nicht?

Man kann um 8 Uhr morgens nicht die gleichen Bedingungen haben, wie um 4 Uhr nachmittags. Das ist alles nicht vergleichbar, weil ich in der Natur immer in der Wildnis bin. Die Natur ist alle Tage neu und kreativ. Und wenn ich einen Wettkampf beginne, weil ich Lust habe, vom Autoparkplatz schneller als meine Arbeitskollegen hinaufzugehen, dann mache ich irgendetwas falsch.

Sie kommen im Oktober nach Rohrdorf. Wie kam es denn dazu? Haben Sie eine Verbindung zur Region und dem Ort?

Man hat mir schon vor Jahren immer wieder eine Einladung vorgelegt, ich solle nach Rohrdorf kommen. Eingeladen hat in diesem Fall nicht ein lokaler Alpenverein, sondern der stellvertretende Bürgermeister. Dann habe ich immer gesagt, Rohrdorf ist ein kleines Dorf, da kann ich nicht hinfahren, da sind zu wenige Zuhörer. Irgendwann hat mich der sehr bemühte Bürgermeister allerdings überzeugt – und es war ein riesiger Erfolg. Es waren zehnmal so viele Zuhörer da, wie ich erwartet hätte.

Hatten Sie bei Ihrem letzten Besuch auch die Möglichkeit, sich die Region anzuschauen?

Nein, leider nicht. Aber eine meiner Töchter lebt in Rosenheim. Da war ich öfter bei den Ausstellungen im Lokschuppen. Die waren immer toll.

Gibt es sonst noch etwas, was Ihnen hier besonders gefällt?

Natürlich die Nahgebirge-Situation. Aber auch die „Rosenheim-Cops“ sehe ich sehr gerne.

Interview: Patricia Huber

Messner kommt nach Rohrdorf

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