„Mehr Personal unbedingt notwendig“

von Redaktion

Interview Landgerichtspräsidentin Anja Kesting ist seit dem 16. April im Amt

Traunstein – Mehr als 5800 neu eingegangene Verfahren im vergangenen Jahr, über 700 Beschäftigte im Landgerichtsbezirk, große Bauvorhaben – am Landgericht Traunstein sowie an den fünf Amtsgerichten Altötting, Mühldorf, Laufen, Rosenheim und Traunstein gibt es viel zu tun. Seit 16. April hält Landgerichtspräsidentin Anja Kesting die Fäden in der Hand. Eine Unbekannte ist die 61-Jährige hierzulande nicht. Sie wohnt seit 1999 im Chiemgau, wirkte bereits vor 16 Jahren am Landgericht und leitete zuletzt ein Jahr lang das Amtsgericht Rosenheim.

Sie sind, wie Sie selbst sagen, in Ihre „Heimat“ zurückgekehrt. Sie stammen doch aus Nordrhein-Westfalen?

Im Chiemgau habe ich mehr Jahre verbracht als im Norden. Hier fühle ich mich ausgesprochen wohl. Hier ist meine Heimat.

Was hat sich – soweit Sie das nach wenigen Arbeitstagen als Landgerichtspräsidentin beurteilen können – seit 2008 geändert?

Die Veränderungen sind eher marginal. Erstaunlich ist, wie viele Menschen, die ich von damals kannte, noch immer hier im Landgerichtsbezirk arbeiten. Und die Stimmung – sie ist genauso gut wie 2008.

Wo liegen die Schwerpunkte Ihrer Arbeit in den kommenden Jahren?

Originäre Aufgabe als Präsidentin ist die Personalführung, sowohl für den richterlichen als auch den nicht-richterlichen Dienst. Ohne Wachtmeister und Servicestellen würde ein Gericht nicht funktionieren. Das Amtsgericht Altötting hat 62 Beamte und Angestellte, das in Laufen 71. 75 Mitarbeiter sind am Amtsgericht in Mühldorf, 209 in Rosenheim und 119 am Amtsgericht Traunstein tätig. Mit dem Landgericht bin ich aktuell für 704 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verantwortlich. Als Präsidentin habe ich auch repräsentative Aufgaben. Wichtiger sind Koordination und Networking, beispielsweise mit Landräten und Polizeipräsidenten. Bauangelegenheiten und Haushalte müssen besprochen werden. Alles, was ich am Amtsgericht Rosenheim gemacht habe, zählt auch in Traunstein zu meinen Aufgaben, allerdings übergreifend auf den gesamten Bezirk. Nicht zuletzt bin ich als Mitglied der mit Beschwerden etwa in Haftsachen oder Betreuungsverfahren befassten Vierten Zivilkammer am Landgericht auch noch Richterin.

Die Gerichte in Südostbayern sind im Lauf der Jahre immer weiblicher geworden. Sie persönlich bilden zusammen mit ihrer Stellvertreterin Andrea Titz die erste und einzige weibliche Doppelspitze in der bayerischen Justiz. Haben Männer überhaupt noch eine Chance?

Aber sicher doch. Wir haben hier sehr gute Frauen, aber auch sehr gute Männer. Der Anteil der Frauen in der Justiz steigt seit Jahren kontinuierlich. Im Oberlandesgerichtsbezirk München gibt es aktuell sieben Präsidentinnen und fünf Präsidenten. Von den 168 Landgerichtsmitarbeitern in Traunstein sind 117 weiblich, von den 49 Richtern 26 weiblich und 23 männlich. Als erste Präsidentin in Traunstein mit seiner rund 700-jährigen Gerichtsgeschichte stehe ich in Tradition mit männlichen Vorgängern wie Walter der Tunz im Jahre 1328 und Ulrich der Mäusel anno 1420.

Seit Herbst 2023 war das Zimmer des Präsidenten verwaist. Vizepräsidentin Andrea Titz hat das Landgericht seither offenbar gut geführt. Bedarf es einer Präsidentin überhaupt?

Selbstverständlich. Frau Titz stand unter hoher Doppelbelastung und hat dennoch alles bestens organisatorisch erledigt. Ich bin ihr sehr dankbar, dass sich das Landgericht in gutem Zustand befindet. Sie ist ja außerdem selbst Vorsitzende Richterin einer Strafkammer.

Das Ansehen der Traunsteiner Justiz hat gelitten ob der immer noch ungeklärten Vorwürfe gegen Ihren Amtsvorgänger. Wie stehen Sie dazu?

Mit dieser Sache war ich nie befasst und möchte mich dazu auch nicht äußern. Das Image der Justiz liegt in meinen Augen viel mehr daran, wie wir das Vertrauen der Bürger gewinnen. Das hängt nicht von einzelnen Personen oder Einzelverfahren ab. Wir alle sind jeden Tag verpflichtet, unser Bestes zu geben.

An der Sanierung oder Erneuerung des räumlich viel zu beengten Sitzungssaaltraktes aus den 1960er-Jahren ist in den vergangenen Jahrzehnten noch jeder Präsident gescheitert – mangels Geld vom Freistaat. Wann könnte die Raumnot ein Ende haben?

Das ist eine sehr gute Frage, auf die ich noch keine Antwort weiß. Das Justizministerium und das Oberlandesgericht sind über die Raumprobleme informiert. Aber es müssen halt auch die notwendigen Mittel dafür vorhanden sein. Zentrale Ursache für die Raumnot sind große Verfahren, die unter Umständen über Monate alles blockieren. Viele Büroräume wurden schon in Sitzungssäle umgewandelt. In Rosenheim haben wir in dem einen Jahr einiges erreicht – einen neuen, fast fertigen Schöffengerichtssaal, das Ermittlungsrichterzimmer haben wir aus Sicherheitsgründen ins Erdgeschoss verlegt, ein Zimmer für Anwälte und ihre Mandanten geschaffen, dazu mehr Parkplätze für die Polizei. In Rosenheim steht aber noch viel bevor. Gleiches gilt für die anderen Amtsgerichte, die ich schon zum Teil besucht habe. Ich werde mich zusammen mit den Amtsgerichtsdirektoren und dem Geschäftsleiter des Landgerichts sehr intensiv dem Thema Bauen widmen. Ich baue gerne. Die Krux ist: Das Thema beschäftigt andere Gerichte wie das Amtsgericht Erding genauso dringlich.

Nicht nur Platz ist knapp. Auch beim Personal fehlen Kräfte?

Das Landgericht verzeichnete im Jahr 2023 den Eingang von 3116 Zivilverfahren und 2736 Strafverfahren. Eine Besonderheit bei uns sind die vielen Schleuserverfahren. Wir haben hier mit die höchsten Verfahrenszahlen in ganz Deutschland. Am Landgericht ist die Belastung bei Strafrichtern und den Beschäftigten in den Servicestellen besonders groß. Viele leiden unter der Situation. Wenn große Strafprozesse wie kürzlich der Mordfall in Aschau mit 34 Hauptverhandlungstagen laufen, sind Richter und Servicemitarbeiter für lange Zeit gebunden. Damit andere Verfahren, insbesondere mit inhaftierten Angeklagten, nicht platzen, wurde in Traunstein letztes Jahr eine Hilfsstrafkammer gegründet, die eine gewisse Zahl von Verfahren übernommen hat. Mehr Personal ist unbedingt notwendig. Das kann aber zu meinem Bedauern nicht ich entscheiden. Das muss der Landtag beschließen. Im Haushalt 2024/25 sollen 300 zusätzliche Stellen entstehen, aber vorrangig für Staatsanwälte.

Auf Sie wartet beruflich ein Berg von Arbeit. Was hilft Ihnen privat beim Ausgleich?

Wasser und Berge. Beim Wandern, Segeln und Radfahren finde ich eine gesunde Balance. Der Chiemgau ist der schönste Teil Bayerns. Ich schätze das Miteinander. Hier grüßt man sich noch beim Einkaufen. Hier bin ich, und hier bleibe ich.Interview: Monika Kretzmer

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