„Ein Kind verhungert nicht einfach so“

von Redaktion

Nach der Tragödie um den Tod eines Dreijährigen in Ebbs, der an Unterernährung starb, herrscht Fassungslosigkeit. Die Eltern wurden festgenommen. Wurde das Kind misshandelt, oder gab es eine Vorerkrankung – und warum bekam niemand etwas mit? Experten versuchen, den Fall einzuordnen.

Ebbs – Im Tiroler Unterland ist ein Dreijähriger an Unterernährung gestorben. Er war, wie berichtet, am Pfingstmontag leblos in einer Ebbser Wohnung aufgefunden worden. Die Eltern wurden wegen Mordverdachts festgenommen.

Über allem stehen die Fragen nach dem Warum. Warum musste der Dreijährige sterben? Warum verhungert in einem Land wie Österreich ein kleines Kind? Warum haben die Eltern nicht reagiert? Warum schritten weder Behörden noch Ärzte ein? Warum hat niemand den qualvollen Tod des Buben verhindert?

Auf kaum eine dieser Fragen gibt es derzeit eine befriedigende Antwort. Manches kann vermutlich durch die Einvernahme des Vaters und der Mutter geklärt werden. Manches bleibt vielleicht für immer offen. Ohne Frage ist dieser Fall schockierend. „Und in unserer westlichen Industriewelt auch außergewöhnlich“, sagt zumindest Thomas Müller, Direktor der Innsbrucker Kinderklinik. „Ich kenne keinen ähnlichen.“

Müller selbst hat den Bub aus Ebbs nie behandelt. Er verfügt nur über jene Informationen, die Polizei und Staatsanwaltschaft veröffentlicht haben. Aber Müller ist ein erfahrener Arzt und meint: „Ein gesundes Kind verhungert nicht so leicht. Es wehrt sich, fordert Nahrung, will seine Grundbedürfnisse gestillt haben. Das gehört zum Überlebenstrieb.“

Die Frage nach dem
letzten Arztbesuch

Dass Menschen an Unterernährung sterben, passiert nicht von heute auf morgen. „Das sind Prozesse, die sich über Wochen oder gar Monate ziehen“, sagt Müller. Vorausgesetzt, der oder die Betroffene leide nicht unter Vorerkrankungen. „Dann kann es nämlich schneller gehen, das kann Mangelzustände fördern. Gewisse Leiden senken nämlich den Appetit und erhöhen den Kalorienverbrauch.“

Ob der Dreijährige an so einer Vorerkrankung litt, ist noch unklar. „Durchaus denkbar, dass diese einfach nicht diagnostiziert wurde“, meint der Klinikleiter. „Bei der Geschichte aus dem Tiroler Unterland stellt sich für mich auch die Frage, wann der Kleine das letzte mal bei einem Arzt war“, sagt Müller. „Das Eltern-Kind-Pass-Programm sieht ja regelmäßige Untersuchungen vor. Dort wäre aufgefallen, dass das Gewicht nicht nur stagniert, sondern abnimmt.“

Für den Innsbrucker Mediziner gibt es zwei mögliche Gründe, die dazu geführt haben können, dass der Bub starb. „Entweder die Eltern haben ihn tatsächlich über lange Zeit isoliert, weggesperrt und misshandelt. Oder aber es wurde bei ihm eine Vorerkrankung nicht erkannt oder negiert.“

Ob nun die eine, die andere oder eine noch völlig unbekannte Ursache zum Tod führten, werden weitere Ermittlungen zeigen. So oder so drängt sich die Frage auf: Wie konnte das alles unbemerkt bleiben? Wieso hat kein Arzt Alarm geschlagen? Und warum haben sich nie offizielle Stellen eingeschaltet?

Behörden waren
nicht involviert

Die Kinder- und Jugendhilfe war zu keinem Zeitpunkt in die Causa involviert, erklärte bereits das Land Tirol. Mit der betroffenen Familie habe es keinen Kontakt gegeben. Nachsatz: „Nach derzeit vorliegenden Informationen.“

Petra Sansone ist Geschäftsführerin der Tiroler Kinder und Jugend GmbH und eine Expertin, wenn es darum geht, die Kleinsten in der Gesellschaft vor Misshandlungen zu beschützen. „Behörden können nur dann reagieren, wenn es eine Meldung gibt“, sagt Sansone. „Und der Fall damit bekannt wird.“ Auch Sansone weiß von dem, was in Ebbs passierte, nur über Medienberichte Bescheid. Zu den konkreten Ereignissen möchte sie sich jedenfalls nicht äußern. Ganz generell sei aber bekannt, „dass sich manche Eltern aufgrund sozialer und wirtschaftlicher Probleme, aufgrund von Suchterkrankungen oder wegen anderer Rahmenbedingungen nicht um die Bedürfnisse ihrer Kinder kümmern. Dass manche Eltern sehr früh Unterstützung brauchen, wissen wir auch.“

Es braucht
Zivilcourage

In Ländern wie Tirol sei es ungewöhnlich, dass gravierende Fälle von Misshandlung nie auffallen. Besonders dann, wenn Buben und Mädchen ein gewisses Alter erreicht haben. „Überall dort, wo Kinder in soziale Strukturen wie etwa Schulen eingebunden sind, werden Hinweise auf Vernachlässigung für gewöhnlich registriert“, sagt Sansone. „Lehrer oder Pädagogen reagieren hier sensibel.“ Bei jenen, die noch nicht zur Schule gehen oder keinen Kindergarten besuchen, sei die Lage verzwickter, meint die Fachfrau. „Wenn die Einbindung in das System nicht vorhanden ist, braucht es vor allem Zivilcourage von Nachbarn, Verwandten und Bekannten. Sie können solche Fälle ansprechen.“ Und wenn nötig melden.

Das Netzwerk an Hilfsangeboten sei in Österreich gut, meint Sansone. Bei einer Sache sieht sie aber noch Handlungsbedarf. „Wir brauchen sicher eine bessere Zusammenarbeit zwischen medizinischen und psychosozialen Einrichtungen.“ Dann könne nämlich schneller und zielgerichteter reagiert werden.

Dieser Text stammt von der Tiroler Tageszeitung

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