Rosenheim – Vergangenes Jahr radelten von Missbrauch Betroffene von München nach Rom. Papst Franziskus übergaben sie ein Herz als Symbol. Richard Kick war dabei. Er ist Sprecher des Betroffenen-Beirats und hat auch die Neuauflage der Radtour organisiert. Diesmal führt die Tour in die Region Rosenheim, am morgigen Sonntag starten Richard Kick und seine Mitfahrer in München. Mit dem OVB sprach Kick über beunruhigende Fälle in Rosenheim, den Kontakt zu Betroffenen, über Fortschritte der Kirche und die Hilflosigkeit eines Oberhirten.
Vor ziemlich genau einem Jahr radelten Sie mit anderen Betroffenen nach Rom. Was ist der Anlass für die Neuauflage?
Wir wollen die Eindrücke, die wir auf unserer Fahrt nach Rom und bei der Übergabe des Symbols von uns Betroffenen gewonnen haben – ein Herz, gefertigt von dem Künstler Michael Pendry –, jetzt in die Diözese hinaustragen. Das heißt den engen Kontakt zu suchen, zu sehr vielen Betroffenen, die sich seit der Zeit, als wir von Rom zurückgekehrten, bei der Diözese gemeldet haben.
Diese Neuauflage der Radtour hat ihren Schwerpunkt weit östlich von München, genauer gesagt, in Rosenheim und in der Chiemsee-Region. Warum steuern Sie dieses Ziel an?
Der Ansatz ist pragmatisch. Wir werden zunächst nach Osten und dann Richtung Süden fahren. Es ging darum, eine Route zu finden, die wir in sieben Tagen schaffen können.
Ich habe mir den Tour-Plan angesehen. Da reiht sich ein Ort an den anderen wie in einer Kette. Täuscht der Eindruck, oder ist die Region besonders betroffen?
Bei der Routenplanung ist uns ebenfalls aufgefallen, dass wir durchschnittlich alle 30 Kilometer einen Täter-Ort haben. Das heißt, einen Ort, wo Kinder und Jugendliche durch Priester der katholischen Kirche sexuell missbraucht wurden. Wir wollen jetzt recherchieren, woran das gelegen haben könnte. Spannend ist das allemal. Uns ist bei der Recherche jedenfalls aufgefallen, dass es da eine gewisse Konzentration gibt.
Haben Sie schon einen Verdacht, warum es so sein könnte?
Wenn man sich das Gutachten von Westpfahl, Spilker Wastl ansieht, das vor zwei Jahren veröffentlicht wurde: Darin finden sich Hinweise, dass dort eine Sondersituation vorgelegen hat. Wir sprechen mittlerweile davon, dass es Ringe von Pädophilen gegeben haben könnte, die das in der Region organisiert haben. Man kennt ja den Fall von Priester H., der aus einer ganz anderen Gegend Deutschlands in die Region gekommen ist.
Aus Essen.
Aus Essen, genau. Er hatte dort schon sein Unwesen getrieben. Das lässt zumindest stutzig werden. An mehreren Orten war ja auch ein Rosenheimer Pfarrer tätig, ein gewisser Herr Greihansel, der sich womöglich bereits in Tirol und Südtirol schuldig gemacht hatte. Dann war er in München, und dann bekam er erneut eine Gelegenheit in Rosenheim.
Wie konnte sowas passieren?
Das sind ja genau die Fragen, die wir uns seit Jahren stellen. Wie konnten sogar strafrechtlich belangte Täter wie Pfarrer Greihansel, der für schweren sexuellen Missbrauch von Kindern im Gefängnis gesessen hatte, in Rosenheim erneut eingesetzt werden? Es führt sogar eine Spur nach Bozen. Nicht weil er dorthin versetzt worden wäre, sondern weil er da möglicherweise im Urlaub Kinder missbraucht hat. Wir fragen uns, wer hat denn damals die Verantwortung gehabt? Warum ist das nicht aufgefallen, sondern im Gegenteil vielleicht sogar gefördert worden, indem man eben Täter in diese Region gebracht hat?
Mit dieser Radtour lenken Sie die Aufmerksamkeit auf diese Fälle. Wie ist denn die Reaktion der Diözese auf ihre Radtour?
Sie waren erst mal überrascht, dass wir schon wieder aufs Rad steigen wollen, nachdem wir letztes Jahr doch fast 1000 Kilometer gefahren sind. Aber die Resonanz war sehr, sehr positiv. Auch insofern, als dass uns Generalvikar Christoph Klingan sogar weitere Täter benannt hat.
Er fragte, ob der und der Ort auch auf unserer Runde liege, oder ob man möglicherweise an einem oder andern Ort vorbeischauen könnte, die uns noch gar nicht als Täter-Ort bekannt gewesen waren.
Zum Beispiel?
Da wäre das westliche Chiemseeufer, da wäre Rosenheim selbst. Aber da recherchieren wir noch. Ehrlich, ich wusste das nicht, dass wir da alle 30 Kilometer einen solchen Ort haben. Wir werden uns dem Thema „Missbrauch“ auch in einer Podiumsdiskussion am Mittwoch, 19. Juni, in Rosenheim widmen.
Sie haben gesagt, es haben sich in der Zwischenzeit seit der Rom-Fahrt weitere Betroffene gemeldet. Wie viele denn ungefähr?
Also, nach Rom waren es etwas über 100, die sich gemeldet haben.
Über 100?
Nicht nur aus der Region. Auch die Betroffenen anderer Diözesen kriegen ja mit, dass wir ganz schön aktiv sind. In Regensburg oder Eichstätt passiert halt nichts. Also, es sind deutlich über 100. Aus der Diözese sind es über 60 neue belegte und plausibel geprüfte Fälle. An diesem Punkt wurde uns klar, wir müssen da reinfahren. Wir wollen Betroffene ermutigen. Wir werden wieder präsent sein und sagen, kommt, wir unterstützen euch, wir geben euch Hinweise, Tipps und Ideen, wie es weitergeht. Habt Mut. Das ist eigentlich die Kernbotschaft.
Wie würden Sie insgesamt die Fortschritte der Kirche bei diesem Aufarbeitungsprozess beurteilen?
Also ich denke, das Erzbistum, hauptsächlich Kardinal und Generalvikar sowie die Amtschefin (Dr. Stephanie Herrmann, Anm. der Red.) haben verstanden, dass wir kritische Betrachter sind. Dass wir klare Forderungen haben, aber dass wir das gemeinsam machen wollen. Das heißt, wir sind nicht gegen die Kirche und sagen, die Kirche muss weg. Im Gegenteil. Der Großteil der Betroffenen ist weiterhin gläubig und wünscht sich weiterhin eine enge Bindung an die Kirche. Deren Vertreter haben sie, die Betroffenen, zwar verletzt. Aber die Kirche könnte heilen, wenn sie proaktiv und empathisch auf Mitbetroffene zugeht. Der Kardinal hat das jetzt komplett verstanden. Er lässt uns da zwar nicht freie Hand, aber unterstützt uns im vollen Umfang. Seine Stiftung „Spes et Salus“ übernimmt zum Beispiel die ganzen Kosten für Betroffene, die mitreisen. Das heißt, die Unterstützung ist da.
Ab Sonntag, 16. Juni, werden Sie zwischen 30 und 65 Kilometer am Tag zurücklegen. Welches Signal wünschen Sie sich von dieser Radtour?
Dass Betroffene Mut fassen, sich zu melden, auch wenn sie fortgeschrittenen Alters sind. Dass sie Hilfeleistungen gegebenenfalls in Anspruch nehmen und Ermutigung erhalten, dass das Leben doch positiv weitergehen kann.
Ziel der ersten Radtour nach Rom war der Vatikan. Betroffene trafen auf Papst Franziskus. Wie war die Reaktion des Papstes auf die Betroffenen und ihr Anliegen?
Es war schon symbolhaft. Er ist aus seinem Rollstuhl aufgestanden und kam auf Augenhöhe auf uns zu. Wir mussten nicht an ihn herantreten, sondern er ist zu uns gekommen. Und als ich ihm das erwähnte Herz übergeben habe, hat man gespürt, da ist ein Mensch. Er hat meine Worte verstanden: Wir kommen mit dem Herzen, es wäre schön, wenn Sie uns ebenfalls mit dem Herzen begegnen. Auf Rückfragen, was denn nun passiere und wie er das beeinflussen könnte, folgte allerdings minutenlanges Schweigen. Und dann hat er die Worte gebraucht: Es ist schwierig, es ist schwierig. Betet für mich. Ich bete für euch.
Das war alles?
Das war alles. Es war eine menschliche Begegnung, das haben wir alle gespürt. Aber danach kam nichts weiter. Kein Hinweis, wie es von der Kirche aus weitergehen würde, nur der Wunsch, dass wir wieder gut nach München zurückkehren sollen. Und wir haben uns bedankt.