Vogtareuth – „Ui, Du hast aber eine schöne Kette um!“ platzt Lisa heraus. Mutter Sandra schmunzelt. Typisch ihre Neunjährige: Geradlinig und offen auf Menschen zu. Und die bunten Kullern um den Hals der Reporterin haben ihren Zweck erfüllt, Berührungsängste Fehlanzeige.
Lisa ist ein „Geschwisterkind“. So heißen die Mädchen und Buben, die mit ihren Eltern im Ronald McDonald-Haus leben, während Bruder oder Schwester in der Schön Klinik liegen. So wie Lisas großer Bruder Niklas.
Unglück am neunten
Geburtstag
Niklas lebt von Geburt an mit der Gefahr, dass ihm eine Ader reißt. Er hat gelernt, damit umzugehen, die Folgen mittels Training zu minimieren, „er hatte diesen Geburtsfehler toll überwunden“, erzählt Sandra Menzel.
Seine Eltern achteten genau darauf, dass alle Kontrollen rechtzeitig erfolgten, „und dann ist es doch passiert.“ An Lisas neuntem Geburtstag. „Niklas hat mir in der Früh noch etwas geschenkt und dann ist das Unglück geschehen“, erzählt Lisa. Am 31. August 2023 war das.
So landete Lisa aus Niederbayern mitten in den Sommerferien in Vogtareuth. Und fand Aufnahme in der Ferienbetreuung der Gemeinde in der Schule. Was sich zwei Wochen später positiv bemerkbar machte. Denn Lisa blieb. „I bin glei hier in die dritte Klasse kemma“, sagt sie. Denn dass Niklas länger in der Klinik bleiben musste, das war klar. Das Gebäude kannte Lisa schon, die neuen Klassenkameraden nicht, aber „die warn glei nett zu mir“. Banknachbarin Ghazad wurde die erste Freundin. Bei weitem nicht die Letzte. „Lisa ist wirklich toll aufgenommen worden“, ist Sandra Menzel dankbar.
Bis zu den Herbstferien sollte Lisa Schülerin in Vogtareuth sein, erinnert sich Schulleiter Christoph Steiner. Auch in früheren Jahren gab es immer mal wieder Kinder, die kurz hier in die Schule gingen, weiß Steiner, aber Lisa war das erste Kind aus dem vor einem Jahr eröffneten Ronald McDonald-Haus. „Ein so offenes, herzliches, freundliches Mädchen – Lisa war sofort überall integriert“, sagt Steiner und man hört sein Lächeln bei diesen Worten durchs Telefon.
Vier Tage in der Woche war „Mitti“ angesagt, also Mittagsbetreuung. So hatte Sandra Menzel mehr Zeit, sich um Niklas und seine Therapien zu kümmern, ohne dass Lisa sich vernachlässigt gefühlt hätte. Dazu hatte der Wirbelwind aber gar keine Zeit: Keramikkurs, Selbstverteidigung, Kommunionvorbereitung, Hip-Hop – „sie hat alles mitgenommen“, sagt Lisas Mutter lachend.
Kommunionvorbereitung? Klar, Lisa ist neun, geht in die dritte Klasse, da ist das ganz normal. Natürlich war sie in Vogtareuth mit dabei. So lernt auch ihre Mutter die Mütter der Klassenkameraden kennen. „Leider nur flüchtig, aber zu mehr fehlte mir einfach die Zeit.“ Kommunion hat man nur einmal im Leben.
Eigentlich. Bei Lisa war‘s anders. Sie hat zweimal gefeiert, einmal „dahoam g‘scheit“ – also mit den Großeltern, der gesamten Familie und ihren dortigen Freunden. Und ein zweites Mal in Vogtareuth. Da war sie zum Zuschauen mit ihrer Mutter in der Kirche. Bis sich Pfarrer Guido Seidenberger umschaute und fragte „Wo ist eigentlich Lisa?“
Und Lisa hat etwas völlig Neues für sich entdeckt: den Faschingstanz. Da schleppten sie Freundinnen zu den „Dancing Kids“ mit. Erstmal nur zum Training. Als klar war, dass Lisa deutlich länger als bis zu den Herbstferien bleibt, war sie endgültig Teil der Truppe, ging mit zu Faschingszügen und trat natürlich auch mit auf.
Jeden Morgen reihte sich Lisa in den Tross der Kinder ein, der aus dem oberen Teil des 3200-Einwohner-Dorfes in die Schule lief.
„Mit dem Schulranzen an mir vorbeiflitzen und dann ratschend Richtung Schule“, hat Tanja Forderer-Barlag mehr als einmal erheitert beobachtet. Sie ist Leiterin des Ronald McDonald-Hauses Vogtareuth. Den gleichen Job hatte sie schon am Herzzentrum München. Nur sind da die Vorzeichen ganz andere, Patienten und Familien bleiben wesentlich kürzer.
„Es war für mich auch ein neues Erlebnis, dass Kinder vor der Tür stehen und fragen, ob Lisa zum Spielen rauskommt“, gesteht Tanja Forderer-Barlag lachend.
Lisa hat, da ist Tanja Forderer-Barlag ganz sicher, sehr dazu beigetragen, das Ronald McDonald-Haus näher an den Ort zu rücken. „Sie hat Hemmschwellen abgebaut.
Denn die Kinder erzählten zu Hause, was sie hier erlebt haben und auch für Eltern ist es nicht das Gleiche, ob sie ihre Kinder zum Spielen herbringen oder zu einem Tag der offenen Tür kommen“.
Das Gefühl, Teil des Ortes zu sein, sei schon gewachsen „und es war uns auch ein Anliegen, dass Lisas Freundinnen und Freunde zu uns kommen.“
Auch wenn die Mitarbeiterinnen im Haus viel täten, Distanz abzubauen – wie zum Beispiel beim Dorfflohmarkt mitzumachen –, sei durch Lisa manche Hemmschwelle zum Ronald McDonald-Haus und zur Schön Klinik viel schneller abgebaut worden.
Jederzeit wieder nimmt er Geschwisterkinder auf, sagt Schulleiter Steiner. „Wenn wir den Kindern einen Raum geben können, an dem sie sich wohlfühlen, wenn wir ihnen Halt geben können, dann ist das doch toll!“ Der Schulleiter war auch Lisas Klassenlehrer. Bis nach den Pfingstferien. Deshalb hat Steiner auch einen Zeugnisvorschlag an die Kollegin in Lisas Heimatdorf geschickt, denn den Großteil des Schuljahres war sie ja bei ihm. Seit Kurzem ist sie wieder in Niederbayern.
Lisa ginge gerne auch in der vierten Klasse in die Vogtareuther Schule, sagt sie. Denn sie habe hier schon mehr Freunde als dahoam, „vor allem de Buam san netter.“
Steiner lacht, als er das hört. Er würde Lisa sofort und gerne wieder unterrichten, „aber es wäre wünschenswert für die Familie, dass wir uns nicht länger wiedersehen.“ Denn dann geht es mit Niklas bergauf.
Wiedersehen
mit den Freunden
Der hat Anfang August wieder einen Termin in Vogtareuth. Natürlich kommt Lisa dann für ein paar Tage mit. Schließlich warten ihre Vogtareuther Freunde auf sie, „die vermissen Lisa schon sehr“, sagt der Schulleiter. Dass das nicht bei allen Geschwisterkindern der Fall sein wird, ist dem Pädagogen klar. Zum einen, weil die meisten nicht so lange in Vogtareuth sein werden und zum anderen, weil sie ganz unterschiedliche Charaktere sind.
„Lisa wollte raus“, sagt Steiner, „sie wollte in die Vereine, sie wollte ins Dorf gehören.“ Und wurde ganz nebenbei zum Eisbrecher. Mit Sommersprossen.