Aschau/Traunstein – Vier Monate sind seit dem Urteil der Ersten Jugendkammer des Landgerichts Traunstein vergangen. Sie schickte den Angeklagten Sebastian T. am 19. März 2024 wegen gefährlicher Körperverletzung und wegen Mordes an der Medizinstudentin Hanna W. (23) für neun Jahre hinter Gitter. Dagegen legte die Verteidigung Rechtsmittel ein. Und seit der Vorlage der schriftlichen Urteilsbegründung im Juni 2024 arbeitete sie an der Begründung der Revision. Sebastian T. war zunächst von Harald Baumgärtl und Dr. Markus Frank verteidigt worden, später kam auf Wunsch der Familie des Angeklagten Regina Rick hinzu. Für die Revision wurde Dr. Yves Georg ins Boot geholt.
Mehr Seiten
als die Bibel
Jetzt ist die Begründung der Revision eingegangen. Sie sei sehr umfangreich, entspreche von der Anzahl der Seiten her rund drei Leitz-Ordnern „und enthält diverse Verfahrensrügen sowie die Rüge der Verletzung des materiellen Rechts“, teilt Landgerichtssprecherin Cornelia Sattelberger auf Anfragen der OVB-Heimatzeitungen mit. Von insgesamt genau 1732 Seiten spricht Anwältin Regina Rick – ein Drittel mehr Seiten als in der Luther-Bibel.
Die umfangreiche Begründung entspreche ganz der Art des Indizienprozesses im Mordfall Hanna, sagte Revisionsspezialist Dr. Yves Georg von der Kanzlei Schwenn, Kruse, Georg aus Hamburg. „Der Fall ist überdurchschnittlich kompliziert.“ Die Ausführlichkeit der Begründung hänge aber auch mit den hohen Ansprüchen des Bundesgerichtshofs zusammen. Vor allem die Verfahrensrügen müssten mit größter Sorgfalt verfasst und begründet werden, um zur weiteren Überprüfung auch nur zugelassen zu werden.
Man könne nicht einfach auf das Protokoll verweisen, sagt Georg. Wenn es etwa darum gehe, die Ablehnung eines Beweisantrages zu rügen, müsse sowohl der Antrag als auch der ablehnende Beschluss wörtlich wiedergegeben werden. Zudem müsse auch jeder Bezug auf weitere Unterlagen sorgfältig dokumentiert werden. „So kann dann eine Begründung sehr, sehr lang werden.“
Einfacher sei die Rüge der Verletzung materiellen Rechts. Damit werden zum Beispiel Fehler bei der Strafzumessung, aber auch bei der Beweiswürdigung beanstandet. Bei dieser auch „Sachrüge“ genannten Fehleranzeige genügt es, allgemein auf eine Verletzung materiellen Rechts hinzuweisen. Einer detaillierten Begründung bedarf es zunächst nicht, sie kann nachgereicht werden. „Was wir sicher beanstanden werden, ist die offensichtliche Unzulänglichkeit der Beweiswürdigung“, sagt Yves Georg.
Im Mittelpunkt: der
Hauptbelastungszeuge
Im Visier der Verteidigung steht aber auch der abgelehnte Befangenheitsantrag. Regina Rick hatte ihn eingereicht, nachdem ein E-Mail-Austausch zwischen Richterin Jacqueline Aßbichler und Staatsanwalt Wolfgang Fiedler in den Ermittlungsakten aufgetaucht war: ein Austausch über die Notwendigkeit, den Tatvorwurf neu zu fassen. Nach Regina Ricks Auffassung ein E-Mailverkehr in allzu vertrautem Ton.
Die Münchner Anwältin befasste sich in den vergangenen Wochen aber auch mit der Ablehnung diverser Beweisanträge in der Verhandlung, die von 12. Oktober 2023 bis 19. März 2024 dauerte und sich über 35 Prozesstage erstreckte. Unter anderem hatte die Verteidigerin einen Gutachter der Uni Hamburg und einen Sachverständigen aus Halle befragen wollen. Sie hoffte, damit nachzuweisen, dass Hannas Verletzungen durch das Treiben in der Hochwasser führenden Prien entstanden sein konnten. Das Gericht lehnte ab.
Außerdem will Rick den Zeitpunkt eines Tischtennisspiels geklärt wissen, an dem Sebastian T. teilgenommen haben soll. Trugen er und Freunde es am 3. Oktober 2022 aus, am Abend des Tages, an dem Hanna W. leblos in der Prien entdeckt worden war? Oder doch erst am Tag darauf? Die Glaubhaftigkeit einer belastenden Zeugenaussage könnte davon abhängen.
Im Mittelpunkt ihrer Arbeit an der Begründung aber steht ein anderer Zeuge – der Hauptbelastungszeuge aus der JVA Traunstein. Er gab vor Gericht an, dass Sebastian T. ihm gegenüber den Angriff auf Hanna W. gestanden habe. Der Mann wurde kurze Zeit nach dem Urteil gegen Sebastian T. wegen „sexuellen Missbrauchs von Kindern ohne Körperkontakt mit dem Kind“ zu einer Haftstrafe von vier Jahren und vier Monaten verurteilt. Einen „notorischen Lügner“ hatte ihn Rick schon zuvor, während der Verhandlung im Mordfall Hanna W., genannt.
Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Nebenklage können eine Gegenerklärung abfassen. Dann kann sich wiederum die Verteidigung äußern.
Viel Zeit für die
Lektüre nötig
Irgendwann gehen die Unterlagen an den Generalbundesanwalt, der sich seinerseits äußert. Wie lange sich das hinzieht? Die Staatsanwaltschaft wird viel Zeit für die Lektüre der Begründung aufwenden müssen, von „ein paar Monaten bis zu einem Jahr“ könne das dauern, sagt Revisionsspezialist Yves Georg.
Walter Holderle aus Rosenheim vertritt Hannas Eltern als Nebenkläger. Er hat die Begründung noch nicht zu Gesicht bekommen. Er werde dann prüfen, „inwieweit ich etwas zur Sachaufklärung beitragen kann, oder ob ich eine der Rechtsfragen ebenfalls thematisieren möchte“.