Rosenheim – Die Bauarbeiter heben schon gar nicht mehr den Kopf, sie sind den regelmäßigen Lärm gewöhnt. Alle 90 Sekunden in etwa dröhnt ein Zug über die Behelfsbrücke am Wernhardsberg. Und unter dem Gewicht eines jeden Waggons senkt sich die Stahlkonstruktion der Brücke um vier, fünf Zentimeter. Die Stahlkonstruktion trägt seit vier Jahren die Gleise der Eisenbahnverbindung zwischen München und Salzburg. Und jetzt tritt hier das Projekt „Westtangente“ in die entscheidende Phase.
Höchste Sorgfalt bei
der Brücken-Wache
1,3 Kilometer ist es lang, das letzte Stück der Westtangente, das nach der Einweihung der Aicherparkbrücke noch fertiggebaut werden muss. Seine Schlüsselstelle ist die Eisenbahn-Überführung am Wernhardsberg: ein Zusammenwirken verschiedenster Firmen und Gewerke, bei laufendem Eisenbahnbetrieb. Und das auf schwierigem Untergrund.
Mit entsprechender Sorgfalt halten die Experten des Staatlichen Bauamtes und der Hochschule die Behelfsbrücke im Auge. Die „vielleicht bestüberwachte Baustelle der Republik“ sei die Schlüsselstelle der Westtangente bei Wernhardsberg, sagt Ingenieur Alexander Zett und deutet auf die Kameras in der Umgebung der Brücke. Und auf einen Schacht, durch den eine Prüfsonde 14 Meter in die Tiefe gelassen werden kann. Weitere Sensoren befinden sich an Spundwänden und auf Betonsäulen; die Fachleute können so prüfen, ob sich etwa der Beton unter seinem Eigengewicht von Hunderten Tonnen verwindet. Oder ob der Boden irgendwo nachgibt. Was er in der Region Rosenheim gerne mal tut.
Neue Lösungen für instabilen Untergrund
Der instabile Untergrund ist Rosenheims Alleinstellungsmerkmal in der Welt des Bauwesens, die größte Herausforderung an alle, die mit ihren Bauwerken hoch hinaus oder tief hinab wollen. Denn der Untergrund besteht aus Seeton, Sediment, das sich in der Eiszeit am Grunde des „Rosenheimer Sees“ ablagerte. Vom Gewässer ist – mit Ausnahme vom Simssee – sonst nicht mehr viel übrig. Doch der Seeton macht Ärger genug. Weil er nun mal nachgibt, solange er mit Wasser durchsetzt ist.Insgesamt 500 Säulen haben die Bautrupps daher im Boden bei Wernhardsberg 37 Meter tief versenkt. Ein Teil dieser Säulen stützt die Bodenplatte, über die ab 2025 die Fahrbahn unter den Eisenbahngleisen hindurchgeführt wird. Weitere Säulen verdrängen das Wasser aus dem Seeton, andere lassen es abfließen. Eine Konstruktionsweise, die in der Zusammenarbeit mit der Technischen Hochschule in München entwickelt wurde. Als „Rosenheimer Mischgründung“ dürfte sie Hochbaugeschichte schreiben. Was auch für die Rosenheimer ohne Ingenieursstudium wichtig ist: Die Mischbaugründung funktioniert, auch wenn die Umstände für die Bautrupps höchst kompliziert sind. „Wir liegen im Plan“, sagt Ingenieur Bernhard Gehrmann, „aber an der Grenze des Machbaren“.
Westtangente soll
2025 fertig sein
Die Fortschritte sind unübersehbar. Links und rechts der Behelfsbrücken stehen Stahlgerüste. Sie dienen später als Skelette für die beiden Hälften der „richtigen“ Brücke. Sie werden nördlich und südlich der Gleise in Beton gebaut und sollen dann, je 350 Tonnen schwer, über die Bodenplatte geschoben werden. Auf ihnen werden schließlich die Gleise über die Westtangente gelegt.
Zeitpunkt: Ende Oktober, Anfang November. Die Zwangspausen sind bei der Deutschen Bahn schon angemeldet. 78 Stunden für die eine, 104 Stunden für die andere Hälfte: So viel Zeit haben die Bautrupps des Staatlichen Bauamts, die Oberleitungen abzubauen, die Behelfsbrücke aus der Lücke zu heben, den Damm abzutragen und die beiden Hälften des neuen Überbaus in die Lücke zu schieben.
Am Wochenende wird das geschehen, in der Nacht – damit der Zugverkehr so wenig wie möglich beeinträchtigt wird. Für einige Stunden wird die Verbindung München und Rosenheim dennoch unterbrochen sein.
Sobald die Gleise wieder funktionieren, kann das letzte Stück der Westtangente fertiggestellt und schließlich asphaltiert werden. Rosenheims Innenstadt soll dann endgültig vom größten Teil des Nord-Süd-Durchgangsverkehrs befreit werden. Rund 6000 Fahrzeuge pro Tag soll nach Angaben des Straßenbauamts allein die Aicherparkbrücke von der stark befahrenen Äußeren Münchner Straße ableiten, „die Westtangente steigert die Lebensqualität in Rosenheim und senkt die Verkehrsbelastung“, hatte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder bei der Einweihung im September 2023 gesagt.
Vorkehrungen für
die Mopsfledermaus
Voll entlastet werden die Bewohner Rosenheims, Kolbermoors und Großkarolinenfelds dann ab 2025. Autofahrer aus dem Raum Wasserburg wiederum kommen dann zügiger auf die Salzburger und auf die Inntalautobahn.
Radfahrer, die in den Rosenheimer Westen möchten, dürfen sich schon auf den Spätsommer 2024 freuen. Denn die Arbeiten am bei Spaziergängern und Freizeitsportlern beliebten Waldmeisterweg sind weit vorangeschritten, auch die Arbeiten an der Waldmeisterbrücke über die B15 nähern sich dem Abschluss, wie Planer Gehrmann versichert.
Inklusive der Vorkehrungen für die Mopsfledermaus: Die Lärmschutzwände der Brücke dienen zugleich als Irritationswand für die Flugsäuger. „Damit sie sich nicht zum Autoverkehr auf der B15 verirren“, sagt Gehrmann.