Reit im Winkl – Ohne Stift und ohne Papier verliert sie sich manchmal in ihren Worten. Eine neue Geschichte beginnt, ehe die vorherige endet. Für ihre Bücher stehen ihr bunte Ordner mit Notizen zur Verfügung – zusammengetragen aus Jahrzehnten des Zuhörens. Und mit Stift und Papier finden sie eine Stimme. Roswitha Gruber wird 85 Jahre alt. Jedes Jahr schreibt sie zwei Bücher. 512 Seiten – oder mehr.
Das Schreiben
vom Vater geerbt
Was sie schreibt, schreibt sie zunächst von Hand. „Es kribbelt einem in den Fingern, wenn man Papier sieht und das noch nicht beschrieben ist“, sagt die Schriftstellerin. Ihre Wangen heben sich und ihre Augen werden schmal, durch die Freude, die dieser Gedanke auf ihr Gesicht zeichnet. Das Schreiben habe sie von ihrem Vater geerbt, meint Roswitha Gruber. Und das Schreiben habe ihm das Leben gerettet.
In der Stube im Erdgeschoss des Bauernhofes, in dem Roswitha mit ihrem Mann wohnt, steht ein dunkler Flügel. Das rohe Holz kommt dort, wo die Finger den Lack beim Spielen oft berührt haben, zum Vorschein. Ihr Mann ist Musiker. Spielt jeden Tag. Ihr Vater war Lehrer und schrieb. Ein Porträt seines Profils, mit Brille und gesenktem Blick, hängt eingerahmt neben dem Flügel an der Wand. Das Bild sei während der Kriegsgefangenschaft von einem Mitgefangenen gemalt worden, sagt seine Tochter über die Bleistiftzeichnung. „Jeder, der sich während der Kriegsgefangenschaft geistig betätigt hat, sei es durch Malen, Schnitzen oder aus Blechdosen etwas formen, der hat die Gefangenschaft gut überstanden. Die anderen sind einer nach dem anderen gestorben.“ Ihr Vater schrieb und blieb am Leben. Als Roswitha Gruber 1946 zur Schule kam, wurde sie ebenfalls von der Kunst des Schreibens gefangen.
„Und als mein Vater aus der Kriegsgefangenschaft heimkam, das war 1947, habe ich gesagt: Papa, ich will Schriftstellerin werden.“ „Eine gute Idee“, habe er ihr entgegnet, „aber davon kannst du nicht leben. Lern lieber einen anständigen Beruf, der dich ernährt, und schreiben kannst du nebenher.“ Roswitha Gruber wurde Lehrerin und schrieb nebenher. „Und dann habe ich mit 15 meinen ersten Roman angefangen“, erinnert sich Gruber. Eine Liebesgeschichte, aber nach den ersten zwei Kapiteln erreichte die Handlung den Erfahrungshorizont des jungen Mädchens. Das unvollendete Buch landete in einer Schublade. „Ich dachte, ich muss erst mal Erfahrungen sammeln und dann kannst du weiterschreiben. Während man dann Erfahrungen sammelt, hat man aber keine Zeit zum Schreiben.“
Mit 48 Jahren
das erste Buch
Sie lernte ihren Mann Walter kennen und gründete eine Familie. „Ich war immer voll berufstätig und hatte keine Zeit zum Schreiben“, sagt die bald 85-Jährige. „Ich habe aber alles, was ich irgendwie hörte und sah, gesammelt und wahnsinnig viele Notizen gemacht. Und habe gesagt: ‚Wenn du irgendwann mal Zeit hast, dann schreibst du.‘“ Mit 48 war es so weit. Sie schrieb heimlich, den Titel träumte sie: „Die Zeit, die dir bleibt.“
Die Protagonistinnen ihrer jetzigen Bücher sind starke Frauen: Dienstmägde, Nonnen, Großmütter und Bergbäuerinnen. 44 sind es bereits. Sie selbst wurde in Trier geboren, ihre Geschichten spielen in Bayern, Österreich oder der Schweiz. Die Charaktere hat sie recherchiert oder die Geschichten wurden ihr zugetragen.
Die Emotionen ihrer Heldinnen seien von ihr, sagt Roswitha Gruber, „aber es sind nicht wirklich Sachen von mir drin. Meine eigene Familiengeschichte kommt noch.“ Das ist ihr großer Wunsch. „Ich hoffe, dass ich nächstes Jahr damit anfangen kann.“
Der Ratschlag ihres Vaters habe sich bewahrheitet. Zu Beginn ihrer Karriere als Schriftstellerin hätte sie noch davon leben können. „Jetzt wird es zusehends weniger.“ E-Books hätten vieles kaputt gemacht, sagt die Schriftstellerin. „Deshalb bin ich ja froh, dass ich meine Pension habe. Ich schreibe aber immer noch gut und gerne.“ Um den kleinen Schreibtisch in ihrem Arbeitszimmer kleben viele Notizzettel. Dazwischen ein laminiertes Schild: „Nur der Kleingeist hält Ordnung; das Genie überblickt das Chaos.“ Ihren 85. Geburtstag Anfang August will sie mit Freunden, Familie und Schriftstellern bei sich im Garten feiern.
Das neue Buch der Frau mit grauem Haar, gepunktetem Dirndl und roter Weste soll im September erscheinen: „Die Gelübde der Sammerbäuerin“.
„Da geht es um meine Schwiegermutter und es steht viel über meinen Mann drin“, sagt die Schriftstellerin. Die Ordner mit Aufzeichnungen über ihr eigenes Leben sind ebenfalls gefüllt, warten aber noch auf Papier und Stift.
Ein Video und weitere Fotos finden Sie unter www.ovb-online.de.