Diskussion über Greihansels Grab

von Redaktion

Name des Täters weg und gut? An der Diskussion über das Gedenken an den Rosenheimer Missbrauchsskandal lässt sich erkennen, wie schwer manche Betroffenen noch Jahrzehnte später an den Untaten tragen.

Rosenheim – Die Stadt Rosenheim im Sommer 2024. Im Bildungszentrum St. Nikolaus kommen Menschen zusammen, die unter dem Missbrauch durch Geistliche litten und noch immer leiden. Und Menschen, die sich für die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in der Kirche interessieren. Bei einer Diskussion spricht unter anderem Rechtsanwalt Dr. Ulrich Wastl von der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl.

Keine Einzelfälle,
vielmehr ein System

Nicht allzu viele Gäste haben im großen Saal Platz genommen; es ist sonnig und sehr warm, die Fußball-EM zieht Aufmerksamkeit auf sich. Doch die Botschaft von Ulrich Wastl ist brisant. „Greihansel ist überall“, sagt der Münchner Anwalt über den Täter im Rosenheimer Missbrauchsskandal, den Krankenhausseelsorger Rudolf „Kassian“ Greihansel. Wastl lenkt damit den Blick auf die Tatsache, dass es sich bei Missbrauch in der Kirche eben nicht um „Einzelfälle“ handele. Sondern um ein System. Wie umgehen mit diesem System, wie mit dem Rosenheimer Skandal? Jetzt, sechs Wochen nach der Zusammenkunft, ist die Diskussion längst nicht abgeschlossen.

Die Vorgeschichte ist sogar noch länger. Die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl gewährte 2022 der Staatsanwaltschaft Einblick in ihr Gutachten über Fehlverhalten kirchlicher Verantwortungsträger. Nach der Prüfung durch die Ermittler sandte das Gutachten im März 2023 Schockwellen durch die Diözese München-Freising. Besonders schlimm betroffen: Rosenheim. Nicht nur die kreisfreie Stadt, auch die Region. Nachdem in Rosenheim der Fall des Missbrauchspfarrers Greihansel bekannt wurde, meldeten sich Betroffene anderer Fälle aus der gesamten Region. Richard Kick, Sprecher des Betroffenenbeirats, vergleicht bei der Gesprächsrunde die Häufung von Täterorten mit „Perlen an einer Kette“.

Doch die Stadt Rosenheim ist ein spezieller Fall. Schließlich war Rudolf „Kassian“ Greihansel vorbestraft, als er in Rosenheim seinen Dienst als Krankenhausseelsorger antrat. Wegen schweren Missbrauchs von Kindern war er in München zu fünf Jahren Haft verurteilt worden – ein ungewöhnlich schweres Strafmaß für einen Geistlichen in den 60er- Jahren.

Hinter Gittern plante Greihansel laut Gutachter, seinen Beruf aufzugeben. Er wollte nicht mehr als Priester wirken. Seine Vorgesetzten aber hatten andere Pläne und überzeugten den schuldig gewordenen Mitbruder.

Den neuen Einsatzort des aus der Haft entlassenen Priesters suchte man weit von München entfernt in Rosenheim. Damit nicht gleich das Gerede von seinen Übergriffen die Runde machen würde. In den Jahrzehnten, in denen Greihansel dann unweit des Klinikums in Rosenheim lebte und als Seelsorger wirkte, missbrauchte er weitere Kinder, Ministranten, die er „rekrutiert“ hatte. Der Rosenheimer Missbrauchsskandal: Er war womöglich einer der schlimmsten in der Diözese München-Freising.

Wie umgehen mit diesem Skandal? Wie mit der Grabstätte des 2018 verstorbenen Missbrauchspriesters? Sechs Wochen nach der Gesprächsrunde ringt auch Pfarrer Monsignore Thomas Schlichting immer noch um eine Lösung. Und es wird, daran lässt er keinen Zweifel, noch länger dauern. „Austausch und Abstimmung suche ich auch mit dem Betroffenenbeirat. Und auch mit dem erzbischöflichen Ordinariat – weil es für die Krankenhausseelsorge zuständig ist“, sagte er dem OVB. Vor allem spreche er „mit Gremien jener Pfarreien, aus denen Ministranten kamen, die an Gottesdiensten mit Greihansel mitwirkten.“

Die Kirchenstiftung von St. Nikolaus trägt die Kosten für den Unterhalt des Grabes, in dem Rudolf Greihansel bestattet wurde. Aber – er ruht auf einem städtischen Friedhof. Entsandt worden war er – als Klinikseelsorger – von der Diözese. Es gibt also eine Menge von Parteien, mit der sich Thomas Schlichting auseinandersetzen muss.

Eine Möglichkeit ist es, die Inschrift wegzunehmen“, meint er. Greihansel wäre dann quasi anonym beigesetzt. Eine andere Möglichkeit sei, eine Tafel mit Erläuterungen aufzustellen. Oder ein Kunstwerk. So wie in Maitenbeth. „Ansonsten finde ich es wichtig, in offenen Gesprächen vor Ort nach Lösungen zu suchen, mit denen alle Beteiligten einverstanden sind.“ Auch Betroffene wolle er dazu hören, sagt Schlichting.

Die Erzdiözese macht nach eigenen Worten keine Vorschriften, wie mit solchen Fällen umzugehen sei. Man könnte auch sagen, sie lässt die Pfarrer am Ort allein entscheiden. Man habe dafür keine Richtlinien, heißt es aus München. Die Erzdiözese München und Freising befürworte es aber, wenn die Pfarreien zusammen mit den Betroffenen Formen eines angemessenen Umgangs mit dem Missbrauchsgeschehen vor Ort entwickeln. „Dazu gehören auch die eventuell noch vorhandenen Grabstätten von Missbrauchstätern.“

Jeder Fall sei individuell zu betrachten. In Maitenbeth und Unterwössen seien die Anregungen für den Umgang mit dem heiklen Thema aus der Gemeinde gekommen, „die Erzdiözese hat die Umsetzung finanziell unterstützt“.

Richard Kick hat als Sprecher des Betroffenenbeirats das Für und Wider verschiedener Ansätze reiflich abgewogen. Benennen müsse man das Unrecht. Der Pfarrer, der ihm vor Jahrzehnten Gewalt antat, liegt in einem Priestergrab. Dort soll die Inschrift mit dem Namen des Täters verschwinden. Eine Tafel daneben soll über den Missbrauch aufklären. „Ich persönlich kann damit leben“, sagt Kick. Die sterblichen Überreste könnten bleiben, „die Grabruhe muss man nicht zwangsläufig stören. Aber für die Gesellschaft gehört es dokumentiert, was passiert ist und wer es war.“

Ein düsteres
Erbe

Manchem Betroffenen reicht derlei nicht aus. Greihansel sollte „anonym verscharrt werden“, sagt ein Rosenheimer, an dem sich Greihansel in den 70er-Jahren verging. „Das mindeste wäre, aus dem Priestergrab raus und irgendwo in einem Eck vergraben.“

Die Meinungen in der Behandlung des Grabes gehen noch auseinander. Ebenso ungewiss scheint zu sein, welches Ausmaß der Rosenheimer Missbrauchsskandal tatsächlich hatte. Von drei Betroffenen im Falle des Krankenhausseelsorgers Greihansel geht die Kirche bislang aus.

Offiziell, wohlgemerkt, das heißt: nach gründlicher Prüfung. Über Greihansels düsteres Erbe äußert sich die Diözese ansonsten vorsichtig. „Es gibt glaubwürdige und plausible Hinweise, dass sich auch danach noch Übergriffe ereignet haben.“ So heißt es in dem Aufruf. „Da ist sicher noch nicht alles bekannt“, schwant es Pfarrer Schlichting.

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