Rosenheim – Vermeintliche Lotteriegewinne, Familienangehörige in Not, falsche Polizisten oder Finanzbeamte – die Methoden sind vielfältig, die Trickbetrüger gierig und skrupellos. Meist sind es alte Menschen, die von ihnen getäuscht und sensibler Daten oder großer Geldsummen beraubt werden. Doch jetzt erreicht die Betrugsmasche ein neues, besonders perfides Level. Jetzt sind Menschen im Fokus, die auf die Hilfe anderer angewiesen sind, die aufgrund eines körperlichen oder geistigen Gebrechens einen Pflegegrad brauchen oder bereits haben. Nach Angaben des Instituts SAGS werden im Landkreis Rosenheim circa 6000 pflegebedürftige Menschen zu Hause gepflegt. Sie alle könnte die neue Betrugsmasche treffen.
Betrüger wollen
Kontonummern
Neuerdings geben sich Telefonbetrüger als Mitarbeiter des Medizinischen Dienstes (MD) Bayern aus. „In einem aktuellen Fall erhielt eine Versicherte einen Anruf von einem vermeintlichen Mitarbeiter. Der Anrufer forderte sie auf, ihre Kontonummer preiszugeben“, informiert eine Sprecherin des MD Bayern.
Der Medizinische Dienst ist ein unabhängiger medizinischer und pflegerischer Beratungs- und Begutachtungsdienst mit gesetzlichem Auftrag. Er berät die Krankenkassen, führt Qualitäts- und Strukturprüfungen für Pflegeheime und Krankenhäuser durch, wird bei möglichen Behandlungsfehlern eingeschaltet. Er ist aber auch dafür verantwortlich, den Pflegegrad eines Menschen zu ermitteln.
Pflegegrad wird auch
telefonisch ermittelt
Wer aus gesundheitlichen Gründen auf Leistungen der sozialen Pflegeversicherung angewiesen ist, muss bei seiner Pflegekasse den Antrag auf einen Pflegegrad stellen. Diese beauftragt den Medizinischen Dienst mit der Begutachtung und Ermittlung des Pflegegrades. Bis 2020 war es üblich, dass ein fachlich qualifizierter Mitarbeiter des MD die Betroffenen direkt zu Hause besuchte. Doch während der Corona-Pandemie war das nicht möglich. „Aufgrund des Infektionsgeschehens wurde im März 2020 die häusliche Begutachtung ad hoc auf strukturierte Telefoninterviews umgestellt. Zunächst nur eine Ausnahme. Oberste Priorität hatte der Schutz der Versicherten“, informiert Dr. Marianna Hanke-Ebersoll, Leiterin Bereich Pflege des MD Bayern.
Die während der Pandemie gesammelten Erfahrungen zeigten jedoch, dass die Begutachtung in Form eines Telefoninterviews eine Alternative zum Hausbesuch sein kann. Also wurde das „strukturierte Telefoninterview“ 2023 im Pflegeunterstützungs- und Entlastungsgesetz verankert. „Seit Januar 2024 sind Begutachtungen per Telefon in bestimmten Fallkonstellationen möglich. Bei Erstbegutachtungen sowie bei der Begutachtung von Kindern bis zum vollendeten 14. Lebensjahr findet grundsätzlich weiterhin ein Hausbesuch statt“, erläutert Hanke-Ebersoll. „Die telefonische Pflegebegutachtung wird vor allem bei Höherstufungs- und Wiederholungsbegutachtungen angewandt.“
Begutachtung nimmt
mit Bedürftigkeit zu
Die Begutachtungszahlen sind bundesweit von 1,8 Millionen in 2016 auf 2,6 Millionen in 2022 gestiegen. In Bayern wurden 2016 rund 280000 Begutachtungen durchgeführt. Im Jahr 2022 waren es gut 387000, im vergangenen Jahr bereits 406808. Und die Zahl der pflegebedürftigen Menschen steigt weiter. Das Statistische Bundesamt sagt einen bundesweiten Anstieg von bis zu 27 Prozent auf 6,3 Millionen bereits im Jahr 2035 voraus. Für die Versicherten und den Medizinischen Dienst bedeutet das eine weitere Verschärfung der angespannten Situation in der Pflegebegutachtung. „Mit dem ‚strukturierten Telefoninterview‘ wird es möglich, Versicherte auch in Zeiten des demografischen Wandels und Fachkräftemangels zeitnah zu begutachten, denn das ist die Voraussetzung dafür, dass sie schnellen Zugang zu Pflegeleistungen erhalten“, so eine MD-Sprecherin.
Sicherheitsnetz
beugt Betrug vor
Mitarbeiter des Medizinischen Dienstes rufen Versicherte also tatsächlich an. Leider machen sich das skrupellose Betrüger zunutze. „Sie missbrauchen die Gutgläubigkeit und Unsicherheit der Versicherten. Wir verurteilen solche kriminellen Machenschaften scharf und setzen alles daran, die Sicherheit unserer Versicherten zu gewährleisten“, betont Prof. Dr. Claudia Wöhler, Vorstandsvorsitzende des MD Bayern. Wichtig zu wissen: Krankenkassen und MD haben ein Sicherheitsnetz gespannt. Zuerst erhalten Betroffene einen Brief von ihrer Pflegekasse, in dem darüber informiert wird, dass die Beantragung des Pflegegrades oder der Höherstufung eingegangen ist und der MD mit der Begutachtung beauftragt wurde. Anschließend geht ein Brief des Medizinischen Dienstes mit Termin und Uhrzeit sowie dem Namen des Pflegegutachters ein.
Die Versicherten wissen also genau, wer wann anruft. „Wir kündigen alle Begutachtungstermine – also auch die telefonischen – immer schriftlich an. Nur in Ausnahmefällen – etwa bei Terminabsagen und kurzfristigen Neuterminierungen – melden wir uns per Telefon bei den Versicherten“, klärt Hanke-Ebersoll auf. Sie betont: „Die persönlichen Daten und auch die Telefonnummer der jeweiligen Versicherten liegen uns von der Pflegekasse vor, andernfalls wäre eine Begutachtung nicht möglich. Die Kontodaten werden von uns nicht benötigt und werden auch unter keinen Umständen erfragt.“
Mitarbeiterfragen
nur zur Gesundheit
Dem Medizinischen Dienst geht es bei der persönlichen oder telefonischen Begutachtung des pflegebedürftigen Menschen allein um seinen Gesundheitszustand, das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit, die Ausgestaltung der Pflege daheim oder in einer stationären Einrichtung sowie den Bedarf an Hilfsmitteln oder Rehabilitationsmaßnahmen.
„Deshalb sollten nicht angekündigte telefonische Anfragen, die sensible Daten abgreifen oder zu bestimmten Handlungen auffordern, ein eindeutiger Warnhinweis sein“, betont Prof. Dr. Claudia Wöhler und hat eine Bitte: „Wir rufen alle auf, wachsam zu sein und keine sensiblen Daten am Telefon preiszugeben.“ Sie empfiehlt Versicherten, bei Zweifeln sofort aufzulegen und den Medizischen Dienst Bayern unter der Telefonnummer 089/1590605555 zu kontaktieren, um die Echtheit des Anrufs zu überprüfen. Versicherte, die ähnliche Anrufe erhalten, sollten bei Verdacht auf eine Straftat sofort die Polizei informieren und gegebenenfalls Anzeige erstatten.
Bisher noch keine
Fälle im Landkreis
Im Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums Oberbayern Süd – und damit auch in Stadt und Landkreis Rosenheim – wurden bislang keine solchen Fälle registriert beziehungsweise Anzeigen aufgenommen. „Daher liegen uns auch keine Erkenntnisse zu den Hintergründen oder Motiven vor“, so ein Polizei-Sprecher. „Wie bei anderen, ähnlich gelagerten Betrugsmaschen dürften aber auch hier finanzielle Motive dahinterstehen.“
Tipps und Ratschläge zum Schutz vor Betrug wurden auf den Seiten der Kriminalprävention des Bundes und der Länder im Internet unter www.polizei-beratung.de zusammengetragen.