„Ihr müsst raus!“

von Redaktion

Ausstellung über die Vertreibung aus dem Sudetenland im Wasserburger Rathaus

Wasserburg – Es gibt nur noch ein einziges verblichenes Foto aus dem Heimatort ihres Vaters. Es zeigt den Hof im Sudetenland, auf dem der Vater der Wasserburgerin Heike Maas aufgewachsen ist. Der Papa starb früh, mit 61, die Tochter erfuhr wenig über die alte Heimat und über die Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg. „Ich habe keinen mehr, den ich fragen könnte, wie es damals war“, bedauert die Stadträtin. Mit ihrem Mann reiste sie zwar nach Braunau im Sudetenland, dank des Fotos fand sie vor 15 Jahren sogar das Anwesen wieder. Doch es bleiben Fragen. Deshalb engagiert sich Maas heute im Bundesvorstand der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Und widmet sich intensiv der Erinnerungskultur. Ein Grund, warum sie die Ausstellung „(Nicht) gekommen, um zu bleiben“ über die Vertreibung nach Wasserburg holte. Sie wurde am vergangenen Dienstagabend im Rathaus eröffnet.

In der Nachkriegszeit lag der Fokus auf der Existenzsicherung

Wie Maas ergeht es vielen Nachkommen der Kriegsgeneration in Wasserburg. Eltern und Großeltern der Flüchtlinge und Vertriebenen fanden hier eine neue Heimat. Sie bauten sich Existenzen auf. Doch in der Nachkriegszeit und während des Wirtschaftswunders lag der Fokus auf der Zukunftssicherung, nicht so sehr bei den Erinnerungen. Aber das Bedürfnis, sich mit diesen Wurzeln der Familiengeschichte zu beschäftigen, ist vorhanden. Das zeigte auch die mit 113 Gästen sehr gut besuchte Ausstellungseröffnung im Wasserburger Rathaus. Viele ältere Bürger waren gekommen, einige hatten Kinder und Enkel mitgebracht. Sogar aus Hamburg war eine Frau angereist, um etwas über die Familiengeschichte zu erfahren. Vertreter der Sudetendeutschen aus den Regionen Altötting, Garching an der Alz und Burghausen waren dabei, ebenso der Zweite Bürgermeister von Wasserburg, Werner Gartner, und die Dritte Bürgermeisterin Edith Stürmlinger.

Sie erlebten Zeitzeugengespräche und eine Ausstellung, die Fragen beantwortet: Am Beispiel der Stadt Braunau wird aufgezeigt, mit Bildern und Texten, wie es war, zwischen 1945 und 1947, als es für Millionen Menschen hieß, innerhalb weniger Stunden die Heimat mit nur wenigen Kilo Gepäck zu verlassen. Otto Zwiefelhofer (79), langjähriger Zweiter Bürgermeister von Wasserburg, war eineinhalb Jahre alt, als dieses Schicksal seiner Familie geschah. Er kann sich also nicht mehr erinnern an die Vertreibung. Doch auch er schilderte anschaulich die Geschichte seiner Familie, die Zugfahrt vom Böhmerwald Richtung Bayern, die von Armut geprägte Kindheit, den Kampf um die neue Existenz mit Stationen in Obing, Ilzham, Mittergars und Wasserburg. Er berichtete über den Beitrag, den viele Vertriebene leisteten, im Wasserburg des Nachkriegsdeutschlands: Einige gründeten sogar Betriebe und Unternehmen wie das heutige Bettenfachgeschäft Klobeck und die später nach Babensham ausgesiedelte Schneiderei Fiedler. Zwiefelhofer berichtete über das schreckliche Schicksal, das seine Mutter nach dem Krieg erlebte: Sie wurde von der Miliz verhaftet und in ein Arbeitslager gesteckt. Dort erlebte sie Schlimmes: „Gewalt jeglicher Art bis zu Mord“.

Nach der Vertreibung sprach sie so gut wie nie über das KZ. Sie schaute nach vorn, nicht zurück, erinnert sich Zwiefelhofer. Er erlebte trotz aller Sorgen eine glückliche Kindheit im Wasserburger Land. Fröhlich und unbeschwert. An die alte Heimat erinnerten die Freude an der Musik und Mutters Kochkünste.

Pater Augustin Schmied aus Gars hat die Vertreibung im Alter von 13 Jahren erlebt. Der Pater erinnert sich noch an den Tag, an dem er die alte Heimat verlor: Es war der 27. Mai 1945. Am Samstagabend erfuhren die Sudetendeutschen: „Ihr müsst raus!“ Bis zur Mittagszeit des Sonntags musste die Grenze übertreten werden. „Wir konnten uns vorher nicht vorbereiten. Es traf uns völlig unvermittelt.“

Hektisch begann die Familie, die wichtigsten Dinge zusammenzutragen und ein paar Habseligkeiten zu packen. Haus und Hof mussten zurückbleiben. „Wir sind in Polen dann herumgeirrt“, erinnert sich Schmied, die Familie wurde auseinandergerissen. Das war die sogenannte „wilde Vertreibung“, geprägt von Willkür und Gewalt sowie Exzessen. 1947, als auch Otto Zwiefelhofers Großfamilie Böhmen verlassen musste, war es ebenso schmerzlich, aber etwas organisierter. Die sogenannten Benes-Dekrete legitimierten in der damaligen Tschechoslowakei die Vertreibung als Folge der vorhergegangenen brutalen NS-Herrschaft in dem Land. Insgesamt wurden drei Millionen Sudetendeutsche vertrieben. Auf zwölf bis 18 Millionen wird die Zahl der Menschen geschätzt, die zwischen 1944 und 1950 die ehemaligen Ostgebiete verlassen mussten. Schmied präsentierte sich vor den 113 Teilnehmern an der Veranstaltung im Rathausfoyer als beredter Zeitzeuge, der sein Schicksal mit beachtlicher Erinnerungsfähigkeit Revue passieren ließ. Geboren ist er in Wernersdorf bei Halbstadt im sogenannten Braunauer Ländchen. Er musste am Tag der Vertreibung in einen Zug steigen, nicht wissend, wohin die Reise genau gehen sollte. Über Umwege ging es nach Bayern, nach Fürth. Seine erste Unterkunft war ein Bunker. Die Bewohner der mittelfränkischen Stadt, sahen in den Neuankömmlingen – die Großmutter, die drei Kinder, die Eltern – zuerst Angehörige der Sinti und Roma. Man wusste ja nichts über sie. Doch mit der Zeit fühlten die Sudetendeutschen eine ihnen freundlich gesinnte Umgebung. „Da ging es uns bald recht gut“, erinnert sich Schmied, Freundschaften konnten sich entwickeln. Welche tiefe Zäsur, welch schrecklichen Ereignisse mit der Vertreibung verbunden waren, hat er freilich nicht mitbekommen.

Kleine Dinge, die
nicht mehr aus dem Kopf gehen wollen

Zweimal hat er inzwischen die alte Heimat besucht, 1993 zusammen mit seinem Bruder und 1998 mit Schulkameraden. Die Landschaft mal wieder zu erleben, die Kirchen zu sehen, das habe in sehr berührt. Das Land mag ihm nun fremd geworden sein, doch in seinen Träumen ist es ihm doch nahe geblieben, berichtete er. Die kleine Wallfahrtskirche in Wernersdorf, der Brunnen, die Sommerabende: All das gehe ihm nicht aus dem Kopf.

Alle Zeitzeugen und ihre Nachkommen eint, das zeigte sich im Gespräch mit Maas deutlich, das Bemühen, die Erinnerung wachzuhalten: „Für Versöhnung, gegen das Vergessen“, so auch der Tenor der Ausstellung. Wasserburg gilt heute als weltoffene, bunte Stadt, die über 90 Nationalitäten vereint. Das war schon in der Nachkriegszeit so, betonte Zwiefelhofer. „Hilfsbereit“ seien die Einheimischen gewesen, die Integration der Neubürger sei gut gelungen damals. Die Stadt habe sich ihrer Aufgaben gestellt, etwa durch die Gründung der Wohnungsbaugenossenschaft im Jahr 1950.

(Nicht) gekommen, um zu bleiben“ – Alle Infos zur Ausstellung im Rathaus Wasserburg

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