Traunstein/Ampfing – Sieben Flüchtlinge aus Syrien und der Türkei, darunter ein sechs Jahre altes Mädchen, verloren bei einem Horrorunfall am 13. Oktober 2023 nachts auf der A94 bei Ampfing ihr Leben. Der Unfallverursacher (25), gebürtig in Damaskus und zuletzt in Wien wohnend, muss sich seit dem gestrigen Dienstag sechs Tage lang vor dem Schwurgericht Traunstein mit Vorsitzendem Richter Volker Ziegler verantworten. Wegen siebenfachen Mords, versuchten Mords in 15 Fällen, versuchten Einschleusens mit Todesfolge und wegen weiterer massiver Delikte.
Fahrer ignorierte Anhaltesignale
Der Angeklagte brachte an jenem Tag im Oktober vor einem Jahr 22 Menschen mit türkischer beziehungsweise syrischer Staatsangehörigkeit über den Grenzübergang Burghausen nach Bayern. Als der 25-Jährige laut Staatsanwalt Markus Andrä bemerkte, dass ihm auf der A94 eine Zivilstreife der Bundespolizei Mühldorf folgte, soll er die Anhaltesignale ignoriert haben. Stattdessen gab der Mann am Steuer des Kleinbusses Mercedes Vito Gas und raste mit bis zu 180 Stundenkilometern über die Autobahn in Richtung München.
Die Polizeibeamten, ein Mann und eine Kollegin, folgten mit einem Abstand zwischen 100 und 200 Metern mit Blaulicht und Martinshorn. Die beiden forderten über die Einsatzzentrale Unterstützung an. Letztlich entschied diese, die Autobahn nicht zu sperren. „Sonst gibt es Tote“, war am Funk zu hören. Ein am ersten Prozesstag vorgespieltes Video aus dem Polizeiwagen heraus gefilmt, zeugte von der gefährlichen Fluchtfahrt.
Nach Überholen eines Lkw scherte der Schleuser mit Tempo 150 an der Ausfahrt Waldkraiburg/Ampfing nach rechts ab. In dem Video hört man die Bundespolizistin laut rufen: „Unfall, Unfall. Fahrzeug verunfallt.“ Der Kleinbus war aufgrund der überhöhten Geschwindigkeit nach links von der Fahrbahn abgekommen, hatte die Leitplanke durchbrochen und sich überschlagen. Das Fahrzeug schleuderte weiter, ehe es auf dem Dach liegen blieb.
Die Besatzung des Verfolgerfahrzeugs kümmerte sich sofort nach Kräften um die Opfer. Zahlreiche Wageninsassen waren massiv verletzt, hatten große, blutende Wunden. Einige zeigten keine Lebenszeichen mehr. Die Situation war zunächst unübersichtlich. Die Ersthelfer mussten regelrecht triagieren, also entscheiden, wer am dringendsten Hilfe benötigte. Eine große Rettungsaktion einschließlich Polizeihubschrauber lief an.
Die Bilanz des Unfalls auf der A94: Sieben der geschleusten 22 Personen wurden tödlich verletzt, darunter das sechsjährige Kind und dessen Vater. 14 weitere Personen im Fahrzeug erlitten schwere bis mittelschwere Verletzungen wie Knochenbrüche, Schädelprellungen, Traumata an Wirbelsäule, Brustkorb und Kopf. Ein Geschädigter trug einen bleibenden Hirnschaden davon, welcher ihm jegliche Form der Kommunikation und Fortbewegung unmöglich macht. Er schwebt noch in Lebensgefahr.
Opferanwalt Axel Reiter aus Mühldorf vertritt die Eltern von einem der getöteten Männer. Sie sprechen kein Deutsch und kommen nicht zu dem Prozess. Für die Familie ist eine in Deutschland lebende Cousine des Getöteten im Gerichtssaal anwesend, die auch mit Angehörigen von weiteren Opfern in Kontakt steht. Eine Frau saß am 13. Oktober 2023 ebenfalls in dem Kleinbus. Sie verlor nicht nur ihre sechs Jahre alte Tochter, sondern auch ihren Mann. Sie wird am morgigen Donnerstag in den Zeugenstand treten.
Der als einziger mit einem Sicherheitsgurt geschützte Fahrer erlitt selbst nur einen Armbruch und Prellungen. Der 25-Jährige, der erst ein Jahr vorher in Österreich den Führerschein erworben hatte, gab sich damals gegenüber der Polizei zunächst als Beifahrer des Schleuserautos aus. Dass er den Wagen gelenkt hatte, wurde aber schnell klar. Er wurde vorläufig festgenommen und saß seither in Untersuchungshaft.
„Überall lagen Verletzte“
Sein Verteidiger, Hans-Jörg Schwarzer aus Berchtesgaden, erklärte bei Prozessauftakt, sein Mandant räume neben der folgenreichen Fahrt zwei der drei ihm zusätzlich vorgeworfenen Schleusungen ein. Lediglich eine illegale Einreise mit 20 Flüchtlingen am 12. September 2023 habe nicht er gemacht.
Der Anwalt hob heraus: „Er wollte nicht, dass jemand zu Schaden kommt oder gar getötet wird.“ Weitere Angaben zur Sache werde der Angeklagte nicht leisten. Zu seinem Vorleben gab der 25-Jährige an, nach der Flucht über die Türkei und Griechenland 2015 nach Wien gelangt zu sein. Dort habe er erst in der Gastronomie, danach bei Amazon gearbeitet. Eine Schreinerlehre sei an der Sprachbarriere gescheitert.
Im Zuhörerbereich des großen Schwurgerichtssaals saßen über ein Dutzend Mitarbeiter des Bundespolizeireviers Mühldorf, die privat die Hauptverhandlung verfolgten. Sie hörten sich die Schilderungen ihrer Kollegen über die dramatische Fahrt an. An der Unfallstelle versuchten die Polizisten, sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Der Zeuge: „Überall lagen Verletzte, einer mit offenem Knochenbruch.“ Auf Frage des Gerichts, wie er das Geschehen verarbeitet habe, schilderte der Polizist: „Es gibt natürlich Momente, in denen man daran denkt. Man hat schreckliche Bilder gesehen. Das Kind hatte Verletzungen, die man nicht überleben kann.“
Für den nächsten Verhandlungstag am Donnerstag hat der Vorsitzende Richter alle überlebenden Wageninsassen als Zeugen geladen. Allerdings ist ihr Erscheinen teils fraglich.