Wache Augen anderer Menschen helfen in der Not

von Redaktion

Wie eine neue App blinden Menschen im Alltag hilft –OVB-Reporterin testet das Angebot

Rosenheim – Mittwochabend, 20.30 Uhr. Ich liege auf dem Sofa und schaue eine Serie. Auf meinem Smartphone ploppt plötzlich eine Benachrichtigung auf. „Jemand benötigt ihre Hilfe“, steht dort fett geschrieben. Darunter: „Eine blinde oder sehbehinderte Person bittet um Hilfe.“ Schnell klicke ich auf die Benachrichtigung und ein Videoanruf öffnet sich – mit einer komplett fremden Person auf der anderen Seite. Es meldet sich Michael: „Hallo, ich würde mir gerne eine Tiefkühlpizza machen. Könntest du mir sagen, wie lange sie bei wie viel Grad in den Ofen muss?“

Es ist eine simple Frage – zumindest für jemanden, der sehen kann. Michael hält seine Handykamera auf die Pizza-Verpackung, doch die Angaben zur Zubereitung kann ich so nicht lesen. „Kannst du die Kamera ein wenig nach rechts drehen?“, frage ich. „Und jetzt noch ein bisschen nach oben. Danke.“ Schnell lese ich Michael vor, wie er sich sein Essen zubereiten kann. Er bedankt sich und dann ist das Telefonat auch schon wieder beendet.

Es ist eine ungewöhnliche Situation, plötzlich einem wildfremden Menschen im Alltag zu helfen. Doch für Betroffene ist das eine wahnsinnige Erleichterung. „Es ist wirklich gut, wenn man im Alltag immer jemanden griffbereit hat, den man kontaktieren kann und der schnell hilft“, sagt Brigitte Lindmeier, Bezirksgruppenleiterin Oberbayern-Rosenheim beim Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund. Möglich gemacht wird diese Hilfe durch die App „Be My Eyes“. Und der Name ist hier Programm. Sowohl Freiwillige als auch Blinde und Menschen mit Sehbehinderung können die App nutzen. Benötigt jemand Hilfe, werden die Freiwilligen kontaktiert. Wer als Erstes auf die Meldung reagiert, wird dem Betroffenen zugeschaltet.

Wie „Be My Eyes“ auf OVB-Anfrage erklärt, dauert es im Schnitt nur zehn Sekunden, bis ein Anruf eines Betroffenen beantwortet wird. Und das ist wenig überraschend, wenn man die Zahl der Freiwilligen betrachtet. Über acht Millionen Menschen nutzen die App als Helfer – und 714000 Blinde oder Sehbehinderte.

Lindmeier nutzt die App selbst zwar nicht, weiß aber, wie hilfreich sie für manche Menschen sein kann. „Wenn ein sehbehinderter oder blinder Mensch alleine wohnt, hat man natürlich öfter mal ein Problem. Zum Beispiel, wenn man etwas verliert.“ Dann sei es toll, wenn man kurzerhand einen sehenden Menschen dazuschalten könne. „Die Technik wird in diesem Bereich immer besser, sodass man ein selbstständiges Leben wirklich besser führen kann.“

Was sie allerdings auch zu Bedenken gibt: „Bei uns in der Region – und auch generell – ist der Großteil der Betroffenen 75 Jahre alt und älter. Diese Menschen müssen sich erstmal mit einer Sehbehinderung oder einer Blindheit zurechtfinden und haben oft auch keinen Zugang zu diesen Apps.“ Diese Personen würden dann eher auf andere Hilfsmittel zurückgreifen. Hinzu kommt, dass man für die „Be My Eyes“-App eine Internetverbindung benötigt.

Neben „Be My Eyes“ gibt es aber ohnehin noch zahlreiche weitere moderne Hilfsmittel für sehbehinderte und blinde Menschen. So beispielsweise eine kleine Kamera, die an einem Brillengestell befestigt werden kann. Diese kann Texte vorlesen, aber auch Gesichter, Farben und Geldscheine erkennen.

Wie hilfreich solche Hilfsmittel sein können, konnte Lindmeier auch schon selbst erleben. „In einem meiner Seminare war beispielsweise eine Dame, die sehr stark hör- und sehbehindert ist. Sie konnte aber dank der künstlichen Intelligenz voll und ganz am Seminar teilnehmen“, erzählt sie. Man dürfe nur nicht vergessen, dass die KI keinen Dialekt versteht. Lindmeier ist sich allerdings sicher: „Im Bereich künstlicher Intelligenz gibt es noch einiges an Potenzial.“

Es braucht jedoch nicht immer unbedingt die Hightech-KI oder das smarteste Hilfsmittel. Manchmal können schon ganz simple Dinge im Alltag helfen. „Das E-Paper bei Tageszeitungen ist super“, sagt Lindmeier. „Damit kann man sich den Text entweder vergrößern, oder sich sogar per Sprachausgabe vorlesen lassen.“ So könne man auch ohne viel Technik-Wissen über das Tagesgeschehen informiert bleiben. Patricia Huber

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