Angeklagter: „Es war eine Entscheidung Gottes – ich wollte das nicht“

von Redaktion

Urteil gegen Todesfahrer von Ampfing fällt vielleicht schon heute – Schleusung endete für sieben Flüchtlinge mit dem Tod

Traunstein/Ampfing – Unvorstellbare Verletzungen erlitten die sieben verstorbenen Opfer eines Schleuserunfalls am 13. Oktober 2023 um 3.20 Uhr nachts auf der A94 bei Ampfing. 15 Flüchtlinge überlebten, allerdings sämtlich und teils schwerst verletzt. Im Traunsteiner Schwurgerichtsprozess gegen einen 25-jährigen Schleuser aus Wien informierte Professor Dr. Oliver Peschel vom Rechtsmedizinischen Institut an der Universität München gestern über schwerste Polytraumata der Getöteten – zum Beispiel einen zertrümmerten Kinderschädel, vielfache Frakturen, Gefäßabrisse und durchspießte Lungen.

Entschuldigung nach
schweren Vorwürfen

Unter den Toten der Fluchtfahrt vor der Polizei waren ein Vater und sein sechsjähriges Kind. Auf Frage des Vorsitzenden Richters betonte Professor Dr. Peschel: „Niemand musste lange leiden. Die Menschen starben sehr schnell.“ Mit Rücksicht auf die Opfer verzichtete das Schwurgericht auf öffentliches Vorführen von Fotos. Das galt auch für Bilder von den Verletzten.

Viele von ihnen hatte das Schwurgericht an den bisher drei Prozesstagen schon als Zeugen angehört (wir berichteten). Nicht nach Traunstein anreisen konnte der schlimmste Einzelfall – ein 24-Jähriger, der seit dem Unfall im Wachkoma liegt. Er kann aufgrund einer Verletzung des Gehirns nicht sprechen, kann sich nicht bewegen und wird laut Gutachter zeitlebens ein Pflegefall bleiben.

Ein 31-jähriger Syrer, inzwischen bei Coburg wohnend, überlebte den Überschlag des Schleuserwagens bei etwa Tempo 150 an der Autobahnausfahrt Waldkraiburg/Ampfing. Er wollte sich aus den Trümmern des auf dem Dach liegenden Kleinbusses Mercedes Vito durch ein zerbrochenes Fenster ins Freie retten. Er schaffte es nicht – wegen Knochenbrüchen in der Wirbelsäule und im Oberschenkel sowie Bauchraumverletzungen. Ein anderer Flüchtling zog den 31-Jährigen damals aus dem Autowrack. Per Rettungshubschrauber kam er ins Krankenhaus Altötting.

Dreimal musste der Mann operiert werden. Bis heute leidet er körperlich und psychisch unter dem Geschehen. Schmerzen plagen ihn, insbesondere bei Kälte. Er kann ein Jahr nach dem Unfall nicht lange laufen, nicht viel tragen und schlecht Treppen steigen. Hinzu kommen Albträume sowie eine Phobie vor Autos und Geschwindigkeit.

Nach Worten des Zeugen starb sein Cousin bei dem Unfall. Der Angeklagte entschuldigte sich gestern. Der 31-Jährige reagierte: „Du hattest es in der Hand. Leute sind gestorben. Zwei Mädchen sind Waisenkinder. Viele Verstorbene hatten Familie. Mein Cousin hatte sieben Töchter. Du hättest stehen bleiben können.“ Dazu der damalige Fahrer gestern vor dem Schwurgericht mit Vorsitzendem Richter Volker Ziegler: „Es war eine Entscheidung Gottes. Ich wollte das nicht.“

Begonnen hatte die Fahrt des Zeugen am 13. Oktober 2023 in Traiskirchen, circa 20 Kilometer südlich von Wien. Etwa 300 Meter von einer Erstaufnahmeeinrichtung entfernt in einem Park wartete der Angeklagte mit dem Schleuserfahrzeug. Er forderte kleine Grüppchen von zwei bis drei Personen, um nicht aufzufallen. Eine fünfköpfige türkische Familie, darunter der später zusammen mit seinem sechsjährigen Kind getötete Vater, war schon in dem neunsitzigen Kleinbus. Der 31-Jährige und seine Begleiter wurden zu sechst in den schmalen Kofferraum des Mercedes Vito gepfercht – „weil wir dünn waren“. Sie mussten die Köpfe ducken, um nicht von außen gesehen zu werden. Die Fahrt bis Deutschland dauerte etwa vier Stunden. Der Zeuge bekam die Verfolgung durch die Polizei mit. Der Angeklagte habe telefoniert. Ob der lauten Musik im Auto habe man nichts verstanden. Etwa eine Viertelstunde später hätte ein Beweisvideo über die Schleusung an die Hinterleute abgesetzt werden sollen, so der 31-Jährige. Das verhinderte jedoch der Unfall.

Ein anderer Passagier berichtete gestern von „Stoßgebeten“ der Passagiere bei der bis zu 200 Stundenkilometer schnellen Flucht vor der Bundespolizei. An das tragische Fahrtende fehlte ihm jede Erinnerung. Er trug zwei Oberschenkelbrüche, ein gebrochenes Becken, Lungenverletzungen und starke Schmerzen davon. Während des vierwöchigen Klinikaufenthalts musste er sich drei Operationen unterziehen, eine vierte steht bevor. Die Entschuldigung des Angeklagten quittierte dieser Zeuge mit den Worten: „Allerdings musst du mit deiner Sünde leben können.“

Chats noch nach
dem Unfall gelöscht

Lückenlos nachvollziehen konnte gestern ein Beamter der Kriminalpolizeistation Mühldorf die verhängnisvolle Schleusertour. Auffallend war: Sämtliche Chats mit Scouts und Hintermännern hatte der Angeklagte gegen 3.28 Uhr, also acht Minuten nach dem Unfall um 3.20 Uhr, noch gelöscht – mitten im Chaos der Rettungsaktion. Dazu der Kripozeuge: „Die Daten waren unwiederbringlich verloren.“

Am heutigen Dienstag werden die Plädoyers von Staatsanwalt Markus Andrä, Nebenklagevertreter Axel Reiter aus Mühldorf und von Verteidiger Hans-Jörg Schwarzer aus Berchtesgaden erwartet. Möglicherweise ergeht im Anschluss das Urteil. monika kretzmer-diepold

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