Vogtareuth – Sie haben schädelspaltende Kopfschmerzen, lähmende Rückenschmerzen, unerträgliche Knieschmerzen und machen sich voller Hoffnung auf den Weg in ein 3200-Einwohner-Dorf in Oberbayern. Nach Vogtareuth. In die Schön Klinik. Zur Schmerztherapie bei Dr. Veronika Hempel und ihrem Team.
500 von acht bis zehn Millionen Frauen und Männern in Deutschland, die chronische Schmerzen haben, werden dort im Jahr stationär behandelt. Völlig egal, welche Schmerzen sie haben. Oder wie alt sie sind. Auf eines müssen sie sich alle einstellen: Wellnessurlaub mit Wunder wird ihnen nicht geboten. Sie müssen einiges tun, damit sie nach 16 Tagen in einem besseren körperlichen und seelischen Zustand nach Hause fahren.
Hilfe zur Selbsthilfe:
„Was kann ich tun?“
„Wir bringen unsere Patienten weg vom ‚Mach mich gesund‘ hin zum ‚Was kann ich selber tun?‘“ erklärt Dr. Veronika Hempel, die leitende Ärztin des 35-köpfigen Schmerztherapie-Teams. „Uns ist wichtig, dass die Patienten Schmerzen haben und wir ihnen helfen, diese zu lindern – unabhängig von der Ursache“, sagt Dr. Andreas Weidmann, Chefarzt des Fachzentrums Neurologie an der Schön Klinik. Natürlich schauen sich die sechs Fachärzte der verschiedenen Richtungen, die zum Team der Schmerztherapie gehören, die Krankengeschichte genau an und bewerten die Befunde. „Aber wir suchen nicht weiter. Es sei denn, es scheint etwas offensichtlich“, erklärt Dr. Hempel. In der Vogtareuther Schmerztherapie ist die Frage „Wie wird es besser?“, nicht „Warum ist es so?“.
Dafür, dass es besser wird, sorgt ein Team aus sechs Fachärzten verschiedener Disziplinen, Physio- und Sporttherapeuten, Feldenkrais-Lehrern, ein psychologisches Team und Pflegekräfte, die ausschließlich in der Schmerztherapie-Abteilung arbeiten.
Insgesamt 35 Menschen, die sich um maximal 24 Patienten kümmern. „Bei uns gibt es das nicht, dass der Kollege am Wochenende vor einer Patientin steht, die er noch nie gesehen hat, von der er nichts weiß – der kennt die Vorgeschichte schon“, erklärt Dr. Hempel.
Es ist eine patientenzugewandte, sprechende Medizin, die das Team der Schmerztherapie praktiziert. „Wir nehmen uns sehr viel Zeit für unsere Patienten, sehen sie ganz – nicht nur die Hüfte, den Kopf oder den Rücken“, berichtet Dr. Hempel.
„So viel Aufmerksamkeit sind viele Patienten gar nicht mehr gewöhnt“, sagt Dr. Weidmann. Da bei vielen ihrer Schützlinge das Arzt-Patientenverhältnis aufgrund schlechter Erfahrungen erschüttert ist, müssen die Vogtareuther viel Arbeit investieren, den Glauben an eine funktionierende Behandlung wieder aufzubauen. Ein psychologisches Team in der Schmerztherapie? Finden Hempel und Weidmann ganz normal. Zum einen, weil der Schmerz Einfluss auf die Psyche hat. Er nervt, er frustriert, er führt zum Rückzug. Zum anderen, weil schlimme Erlebnisse und schmerzhafte Lebensereignisse wie Missbrauch, Gewalt, Partnerkonflikte eine große Rolle bei der Entstehung von und dem Umgang mit chronischem Schmerz spielen.
Der Geschäftsmann im besten Alter, glücklicher Familienvater und beruflich erfolgreich, der komme nicht auf die Idee, dass seine rasenden Kopfschmerzen etwas mit Mobbing in seiner Jugend zu tun haben, erklärt Dr. Hempel. Da solche Fälle aber zunähmen, sei für das Team die biografische Arbeit so wichtig, „da sind wir ziemliche Meisterdetektive“, so Dr. Weidmann. Und sie tauschen sich intensiv aus, die findigen Experten: 16 Tage sind die Patienten im Haus, mindestens dreimal sind sie in der Zeit Thema in den Teamsitzungen, wo alle Mitglieder – Pflegende, Therapeuten, Ärzte – ihre Informationen, Eindrücke und Beobachtungen teilen. 16 Tage stationär, das ist wichtig, um Abstand von zu Hause, von einem möglichen Krisenumfeld zu gewinnen. Und es geht auch gar nicht anders, denn die Patienten sind in dieser Zeit ziemlich durchgetaktet, haben auch am Wochenende Anwendungen. „Wir machen sie in dieser Zeit zu Experten ihrer Krankheit“, erklärt Dr. Hempel.
Und sie bringen die Patienten dazu, sich klar zu werden, welche Aktivitäten ihnen guttun. Aktiv zu werden. Dann sei es auch unwesentlich, ob Spaziergang, heiße Badewanne oder Kaffeeklatsch mit Freundinnen. Da könne jeder seine Methode wählen. Nur raus aus dem Schneckenhaus, den Schmerzen nicht die große Bühne lassen.
Die 16 Tage in Vogtareuth schaden auch nicht beim Umgang mit Medikamenten. Die bisherige Einnahme zu überprüfen, gehört zu den großen Aufgaben der Schmerztherapeuten. „Viele Patienten gehen ohne Schmerzmittel nach Hause, weil sie sie nicht mehr brauchen. Und die Nebenwirkungen – wie beispielsweise erhöhter Blutdruck – fallen dann auch weg“, sagt Dr. Hempel.
Acht Schmerzpatienten in einer Gruppe sind es jeweils für die 16 Tage in der Schön Klinik. Immer wieder gibt es gemeinsame Anwendungen oder Gesprächsrunden, da kommt automatisch ein Gruppengefühl auf. „Die Patienten wachsen in der Zeit oft sehr zusammen, halten auch nach der gemeinsamen Zeit bei uns Kontakt“, erzählt Dr. Hempel. Wichtig: In der Gruppe erleben sie die Fortschritte der jeweils anderen mit, unterstützen sich auch gegenseitig.
Bei nahezu allen Patienten wird der empfundene Schmerz zumindest halbiert, so die Erfahrungswerte. Wenn sich trotz aller Anstrengungen des Teams nichts oder nicht viel tut und keine Maßnahme lindernd wirkt, „dann besteht meistens eine störende seelische Dynamik im Schmerzerleben“, erklärt die Leitende Oberärztin.
„Und es gibt Fälle, in denen die Schmerzerkrankung auch eine Funktion erfüllt“, sagt Dr. Hempel. „Schmerzleiden führen zu vermehrter Zuwendung und der Schmerzpatient wird von seinem Umfeld von Belastungen freigehalten. Wenn der Schmerz besser wird, entstehen individuell manchmal auch Nachteile. Dann haben die Therapeuten viel zu tun.“
Rund ein Drittel der Patienten kommt nach Monaten oder Jahren noch einmal nach Vogtareuth – weil der Schmerz wieder oder noch da ist. Es gebe aber auch „Auffrischer“, erklärt Dr. Hempel, die nach zwei oder drei Monaten nochmal kommen, sich weitere Tipps und Handreichungen holen. „Der Bedarf für Schmerztherapien ist da, die Not in der Bevölkerung groß“, so die Einschätzung von Dr. Hempel. Das sehen wohl auch die Krankenkassen so, denn sie zahlen mittlerweile Schmerztherapien. Die bis heute gerne genommenen Spritzenkuren gegen Rückenschmerzen hingegen nicht mehr. „Das ist ja auch keine nachweislich wirksame Therapie“, sagt Dr. Weidmann.
Neue Lebenswege nach der Behandlung
Was sich im Laufe der Zeit herauskristallisiert hat: Nach der Behandlung in der Vogtareuther Schmerztherapie entschieden sich viele Patienten für einen neuen Lebensweg. Der vielleicht vorher schon mal angedacht war, aber nicht umgesetzt wurde. Denn: eine Selbstbildkrise gehört zur Schmerztherapie häufig dazu. Weil sich der Patient eingestehen muss, dass er eben kein Bergsteiger mehr ist, sich entsprechend neu sortieren muss. Und das dann nicht immer nur das Hobby betrifft.