Traunstein/Ampfing – Hat ein 25-jähriger Schleuser den Tod von sieben Flüchtlingen und die Verletzungen von 15 Menschen bei einer Fluchtfahrt vor der Polizei auf der A94 billigend in Kauf genommen? Ist er deshalb im Hauptvorwurf wegen Mordes aus Verdeckungsabsicht mit lebenslanger Haft zu bestrafen? Oder hat er durch starkes Bremsen in der Ausfahrt Waldkraiburg/Ampfing bei hohem Tempo mit dem stark überladenen Wagen „nur“ einen fatalen Fahrfehler gemacht? Durfte er darauf vertrauen, dass alles gut geht? Das wäre dann „fahrlässige Tötung“. Darüber muss das Schwurgericht Traunstein mit Vorsitzendem Richter Volker Ziegler entscheiden. Die Kammer verkündet ihr Urteil am 5. November um 11 Uhr.
Hochriskante Flucht
im überladenen Auto
Bei der verhängnisvollen Schleusung in der Nacht des 13. Oktober 2023 hatte der 25-jährige Syrer aus Wien 22 Illegale an Bord des lediglich für neun Insassen ausgelegten Kleinbusses Mercedes Vito. Als eine Streife der Bundespolizei das Fahrzeug für eine Kontrolle anhalten wollte, trat der Schleuser auf das Gaspedal. Mit hochriskanten Fahrmanövern bei maximal möglicher Geschwindigkeit versuchte er, sich der Verfolger zu entledigen. Nach etwa 16 Kilometern wollte er die A94 an der Ausfahrt bei Ampfing verlassen. Mit 146 Stundenkilometern fuhr er in die Ausschleifspur ein und bremste stark ab.
Das Fahrzeug geriet außer Kontrolle. Mit dem Unterboden verfing sich der Wagen in der Leitplanke, überschlug sich und kam auf dem Dach zum Stillstand. Dabei wurden mehrere Passagiere aus dem Fahrzeug geschleudert, darunter ein sechsjähriges Kind, das nach schwersten Kopfverletzungen sofort tot war. Zwei Flüchtlinge prallten auf der Fahrbahn, vier auf dem Grünstreifen auf. Alle sieben Personen starben. Sämtliche weiteren Insassen trugen teils schwerste Verletzungen davon. Der als Einziger mit einem Gurt gesicherte 25-Jährige erlitt lediglich kleinere Blessuren.
Im gestrigen Plädoyer auf lebenslange Haft und „besondere Schwere der Schuld“, die eine Strafaussetzung zur Bewährung nach 15 Jahren Gefängnis ausschließt, hob Staatsanwalt Markus Andrä hervor, der Angeklagte habe auf die flehentlichen Bitten und Stoßgebete der um ihr Leben bangenden Flüchtlinge nicht reagiert. Er habe den Unfall mit Toten und Verletzten „billigend in Kauf genommen“. Niemand habe die Möglichkeit gehabt, sich zu schützen.
Die wesentliche Frage sei: „Hatte der Angeklagte einen Tötungs- beziehungsweise Körperverletzungsvorsatz?“ Ein „direkter Vorsatz“ sei zu verneinen, nicht aber ein „bedingter Vorsatz“, unterstrich Andrä. Der Staatsanwalt fuhr fort: „Es gibt das Wissens- und das Wollens-Element. Der Angeklagte hat gewusst, wie extrem gefährlich sein Handeln war. Er ist mit Höchstgeschwindigkeit in die Kurve gefahren – mit dem Ziel, zu flüchten.“ Das entspreche dem Mordmerkmal „Verdeckungsabsicht“.
Vorsatz oder
Fahrlässigkeit?
Nebenklagevertreter Axel Reiter aus Mühldorf schloss sich an. Bei der Tat handle es sich „nicht um einen Unfall mit tragischem Ausgang“: „Vielmehr hat der Angeklagte aus eigensüchtigen Gründen mit dem Leben anderer Menschen gespielt. Er hat schwere Schuld auf sich geladen, das Leben von Kindern ausgelöscht und Verletzungen anderer Menschen verursacht. Das hat allein er zu verantworten.“ Das Leben vieler Familien habe sich schlagartig verändert. Eine Frau habe Kind und Ehemann verloren. Die „Todesfahrt“ sei durch Fotos, Videos, Zeugen und den Sachverständigen Frank Schmidinger aus Mühldorf gut aufgeklärt worden, argumentierte Verteidiger Hans-Jörg Schwarzer aus Berchtesgaden im Schlussvortrag. Jedenfalls habe sein Mandant „schwerste Verbrechen“ begangen, darunter Schleusung mit Todesfolge und ein verbotenes Kraftfahrzeugrennen mit Todesfolge, dabei hohe kriminelle Energie an den Tag gelegt.
Den Tod der Flüchtlinge und die Verletzungen jedoch habe der 25-Jährige „nicht gewollt“. Einen solch schrecklichen Ausgang habe sich der Angeklagte nicht vorstellen können. Der Anwalt argumentierte, er wolle die Verfolgungsfahrt mit der Polizei nicht schönreden. Zentrale Frage sei aber, ob der Syrer wegen Mordes schuldig zu sprechen sei. Er sehe das anders als der Staatsanwalt: „Ich gehe nicht von Vorsatz aus, sondern von Fahrlässigkeit.“
Laut Bundesgerichtshof seien alle Umstände des Einzelfalls zu prüfen. Die Gefährlichkeit einer Tat allein sei kein Maßstab. Es sei weder geschossen noch gestochen worden. Für einen „tragischen Unfall“ spreche: „Der Angeklagte hat darauf vertraut, dass alles gut ausgeht. Ziel der Flucht war ein erfolgreicher Abschluss der Schleuserfahrt. Nur dafür hätte er seinen Lohn bekommen. Die Vollbremsung bei Tempo 146 war ein Fahrfehler.“ Laut Gutachter wäre das Fahrzeug ohne Bremsung stabil geblieben: „Dann hätte es die Kurve ohne Unfall passiert. Es war kein Blindflug. Wer in der Situation bremst, hat innerlich keinen Tötungs- und Verletzungsvorsatz“. Eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren für die Todesfahrt einschließlich zweier weiterer Schleusungen aus der Anklageschrift sei tat- und schuldangemessen, forderte der Verteidiger.
„Ich wusste nicht,
was ich tat“
Im „letzten Wort“ fügte der gemäß Psychiaterin voll schuldfähige 25-Jährige an: „Was passiert ist, ist tragisch. Ich wollte das aber zu keiner Zeit und auf keinen Fall. Bei der Verfolgungsfahrt habe ich die Macht über mein Verhalten verloren. Ich wusste nicht, was ich tat. Eine höhere Macht war am Werk. Ich bereue alles zutiefst.“