„Viele wollen es nicht wahrhaben“

von Redaktion

Interview Dekan Thomas Schlichting über Priestermangel und Austritte

Rosenheim – Das Gutachten der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl brachte 2023 Ungeheuerliches ans Licht: Geistliche der Erzdiözese München-Freising hatten Kinder und Jugendliche über Jahrzehnte sexuell missbraucht. Und die Kirche hatte Fälle systematisch vertuscht. Der Skandal erschütterte besonders die Region Rosenheim. Noch immer kämpft die Kirche mit den Folgen. Rosenheims Stadtpfarrer Thomas Schlichting äußert sich im Gespräch mit dem OVB über Priestermangel, Austritte und den schwierigen Umgang mit dem Grab von Missbrauchspriester Greihansel.

Mehr und mehr Priester werden aus Indien, afrikanischen Ländern und Polen geholt. Wie ist das in Rosenheim?

Die katholische Kirche ist eine Weltkirche, und in einer solchen ist es einerseits etwas völlig Normales, dass Priester auch außerhalb ihrer Heimatländer eingesetzt werden. Auch Priester aus unserem Erzbistum leisten ihren Dienst in anderen Ländern. Umgekehrt gibt es auch im Dekanat Rosenheim aus all den Ländern, die Sie genannt haben, Priester, die zum Teil auch in der Verantwortung eines Leiters eines Pfarrverbands stehen. Sie bilden aber sicher nicht die Mehrheit.


Wie schaut es denn bei dem Nachwuchs aus?

Der Priestermangel ist eklatant und eine große Herausforderung. Es gibt Diözesen in Deutschland, in denen in einzelnen Jahren gar kein Priester geweiht wird.

Ganze Diözesen?

Ja. Wobei die Priesterweihen in der Regel immer diözesanweit gehalten werden. Auch bei uns sind es in den letzten Jahrzehnten weniger geworden. Wir bemühen uns natürlich weiterhin um junge Menschen und versuchen, sie für den Priesterberuf zu begeistern.

Gleichzeitig werden die Gläubigen weniger. Können Sie sagen, wie stark sich die Anzahl in Rosenheim verringert?

Die Austrittszahlen sind noch immer hoch, auch wenn sich die Dynamik zum Glück abgeschwächt hat. Es gibt aber auch einen demografischen Effekt. Meine Wahrnehmung ist, dass die sogenannten treuen Kirchgänger sterben oder aufgrund ihrer gesundheitlichen Situation nicht mehr kommen können. Das wirkt sich stark auf die Gemeinde aus. Das sind ja die, die sich traditionell stark der Kirche zugehörig fühlen. Und da merkt man einen dramatischen Wandel.

Können Sie den Wandel mit Zahlen belegen?

In Rosenheim sank die Zahl der Katholiken von rund 43000 im Jahr 2020 auf circa 39000 im Jahr 2023. Rosenheim liegt also nicht weit vom Trend.

Möglicherweise haben viele Menschen das Vertrauen verloren. Sehen Sie eine Möglichkeit, sie zurückzugewinnen?

Wir tun viel dafür, dass die Menschen der Kirche wieder vertrauen und sich durch kirchliches Wirken angesprochen fühlen. Wir lassen in unserem Bemühen nicht nach. Die Menschen sollen sehen, da sind andere Menschen, da entwickeln sich Begegnungen, und da kann ich Vertrauen haben. Das ist sicher ein langer Weg. Wir bemühen uns auch um die Jugend und wollen ihr ein buntes, vielfältiges und das Gemeinschaftsgefühl stärkendes Angebot bieten, was gut ankommt, wie nicht zuletzt die Ministranten-Wallfahrt nach Rom gezeigt hat. Vielleicht werden wir zahlenmäßig trotzdem nicht besonders zulegen. Es gibt ja kaum Institutionen, seien es Parteien, seien es Vereine, die nicht diese Schwierigkeiten haben.

In diesen Bereichen war Missbrauch nie das ganz große Thema.

Zumindest soweit wir das bislang wissen. In vielen Bereichen wird eben erst mit der Aufarbeitung begonnen, oder es findet bislang noch gar keine Auseinandersetzung statt. Das heißt nicht, dass es da nichts gegeben hat. Ich denke, die Kirche ist, was Aufarbeitung und Prävention betrifft, schon in einer gewissen Vorreiterrolle. Wenn auch vieles in diesem Bereich noch früher und besser hätte geschehen können. Aber wir sind an dem Thema dran und werden es bleiben. Natürlich hat das Bekanntwerden der Missbrauchsfälle innerhalb der katholischen Kirche stark dazu beigetragen, dass viele Menschen aus der Kirche ausgetreten sind und kein Vertrauen mehr haben. Aber der große Trend existiert auch außerhalb dieser Thematik. Die Abwanderung von Menschen von der Kirche kann also auch andere Gründe haben.

Sie werden sich Gedanken gemacht haben, wie man Vertrauen zurückgewinnt. Was planen Sie?

Ich denke, dass es wichtig ist, in dem, was wir an Begegnungen geschenkt bekommen, gut zu wirken. Dass wir, ob bei Beerdigungen oder wenn Menschen heiraten möchten, sowohl professionelle als auch einfühlsame Ansprechpartner sind. Wir müssen als Kirche nah bei den Menschen mit ihren Sorgen, Nöten und Befindlichkeiten bleiben und deutlich machen, dass wir für sie da sind – mit unserem Glauben, unseren christlichen Werten und der Liebe Gottes. Das kann nur die Kirche leisten.  

Eine Begegnung wurde Ihnen im Sommer geschenkt. Betroffene von Missbrauch radelten aus München nach Rosenheim. Wie war die Begegnung für Sie?

Ich habe die Begegnungen als sehr gut wahrgenommen. In erster Linie habe ich zugehört, also weniger versucht, eine Message zu überbringen, sondern eher zu hören, wie deren Erfahrungen sind, auch in der Aufarbeitung des Missbrauchs an konkreten Orten. Ich habe das als sehr bereichernd empfunden. Für mich ist es wichtig, die Thematik wach zu halten und Formen der Erinnerungskultur auch in Rosenheim zu schaffen.

Es geht um Pfarrer Greihansels Untaten. Wie weit sind Ihre Überlegungen dazu gediehen?

Ich habe dazu Gespräche geführt und bemerkt, dass es wichtig ist, da sehr sensibel heranzugehen. Jedes Mal, wenn das öffentlich thematisiert wird, kann das Betroffene triggern und schlimme Erinnerungen wecken. Deswegen möchte ich auch weiterhin den Weg mit dem Betroffenenbeirat gehen. Herr Kick (der Sprecher des Betroffenenbeirats, Anm. der Redaktion) hat signalisiert, dass er da gerne mit im Boot ist. Mit den Betroffenen, mit dem Klinikum, mit der Stadt Rosenheim und mit der Erzdiözese wollen wir sehen, wie wir eine nachhaltige Erinnerungskultur für Rosenheim schaffen.

Bei aller Sensibilität: Die Betroffenen würden wollen, dass zu ihren Lebzeiten etwas passiert. Wann sind die Überlegungen denn abgeschlossen?

Ich verstehe die Ungeduld von Betroffenen aus tiefstem Herzen. Aber – die Situation ist in Rosenheim komplex, wegen der größeren Zahl derer, die bei der Grabstelle beziehungsweise einem möglichen Gedenk-Ort im Klinikum mitzureden haben. Vielleicht ist auch eine Lösung wie in Maitenbeth möglich.

Wo man eine Erinnerungsstele und eine Gedenktafel aufgestellt hat, die an das Unrecht erinnern. Kann man sich so etwas auch im Fall Greihansel in Rosenheim vorstellen?

Zum Beispiel. Mir ist aber vor allem wichtig, dass wir den Weg gemeinsam mit den Betroffenen gehen. Die Umsetzung muss in einem intensiven Prozess mit den Betroffenen erarbeitet werden.

Hat man dieses dunkle Kapitel mit Pfarrer Greihansel einigermaßen aufgearbeitet oder drohen Überraschungen?

Ich kann und will nicht für andere sprechen. Aber ich kann für die Kirche versichern, dass wir unsere Bemühungen im Bereich Aufarbeitung und Prävention fortsetzen werden.

Gibt es mehr Betroffene?

Wir haben im vergangenen Jahr einen Aufruf in Rosenheim gestartet, damit sich mögliche weitere Betroffene bei den Unabhängigen Ansprechpersonen melden sollen. Es ist nie auszuschließen, dass es in Missbrauchsfällen weitere Betroffene gibt, von denen wir nichts wissen. Das gilt insbesondere im Fall Greihansel, der keiner Pfarrei zugeordnet, sondern im Krankenhaus tätig war und sich seine Ministranten im Grunde aus verschiedenen Pfarreien selbst rekrutiert hat. Weil er so unterschiedlich vorging, kann es natürlich weitere Betroffene geben. Bislang hat sich nach dem Aufruf bei uns aber niemand gemeldet.  

Warum hat sich das Unrecht über all die Jahre in Rosenheim nicht herumgesprochen?

Ich könnte hier nur spekulieren. Aber wir können wohl davon ausgehen, dass in Fällen wie diesen viele nicht wahrhaben wollen, wofür es mehr oder minder deutliche Hinweise gibt. Dann schaut man halt lieber weg.

Interview: Michael Weiser

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