Nach Gabersee-Mord: Schizophrenie im Fokus

von Redaktion

Der Mörder von Oberarzt Rainer Gerth ist verurteilt und in einer forensischen Klinik untergebracht worden. Er gilt als schuldunfähig als Folge einer paranoiden Schizophrenie. Doch wie gefährlich ist diese Erkrankung? Experten des kbo-Inn-Salzach-Klinikums über die Behandlung und den Kampf gegen Stigmatisierung.

Wasserburg – Einer unter 100 erkrankt im Leben an Schizophrenie. Umso wichtiger ist es, Betroffene nicht zu stigmatisieren. Eine Herausforderung vor dem Hintergrund, dass in Wasserburg ein schizophrener Mann am 8. April Oberarzt Rainer Gerth auf dem Klinikgelände in Gabersee ermordet hat.

Wie gefährlich ist die Erkrankung? Das ist eine schwierige und wichtige Frage zugleich, die sich viele OVB-Leser stellen. Privatdozent Dr. Michael Rentrop, Chefarzt im Zentrum für Psychose-Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen am kbo-Inn-Salzach-Klinikum (ISK) Wasserburg, und Ärztlicher Direktor Professor Dr. Peter Zwanzger klären darüber auf.

Beginn meist im Alter
zwischen 20 und 30

Es ist wie bei einer Infektion, etwa mit einem Grippe-Virus: Wird die Erkrankung nicht rechtzeitig behandelt, kann sie sich verfestigen. „So ist es auch bei Schizophrenie“, erklärt Dr. Michael Rentrop.

Schizophrenie beginne – in der Regel im Alter zwischen 20 und 30 Jahren – oft mit kurzen Episoden, sogenannten „Blips“. Dann falle der oder die Betroffene plötzlich dadurch auf, dass er oder sie ein seltsames Verhalten an den Tag lege. Rentrop fasst dies so zusammen: „Die Welt wird objektiv gesehen falsch wahrgenommen. Von dieser Überzeugung sind Patienten jedoch nicht abzubringen.“ Betroffene würden verworren reden und merkwürdig handeln, sie könnten auch Halluzinationen erleben, etwa Stimmen im Kopf hören.

Doch wie gefährlich sind solche Erkrankungen der Psyche, für die Betroffenen und ihr Umfeld? Das fragen sich viele, bei denen der Mord an ISK-Oberarzt Rainer Gerth noch nachwirkt. Er war auf dem Klinikgelände in Gabersee am 8. April von einem Mann, der hier in der Klinik für psychisch kranke Straftäter von 2010 bis 2013 in Therapie war, mit Messerstichen ermordet worden. Das Landgericht Traunstein hat den Täter, der schuldunfähig ist, zur Unterbringung in einer forensischen Klinik verurteilt.

Gefahr durch
Cannabis-Konsum

Im Anfangsstadium der Schizophrenie gibt es nach Erfahrungen des Experten noch sehr gute Chancen, nachhaltig einzugreifen. Erst wenn die Symptome mehr als vier Wochen lang ununterbrochen anhalten, spreche die Medizin von einer manifestierten Erkrankung.

Laut Rentrop gibt es nicht den einen Auslöser. Ursächlich sei ein komplexes Zusammenspiel vieler Faktoren. Es gebe eine genetische Komponente, die eine erhöhte Verletzlichkeit, eine Psychose zu bekommen, verursachen könne. Betroffen seien oft auch Menschen, bei denen es bereits während der Schwangerschaft Komplikationen gegeben habe. Außerdem gibt es nach Erfahrungen des Chefarztes einen deutlichen Zusammenhang zwischen frühem Cannabis-Konsum und Schizophrenie: Werde das Suchtmittel in der Pubertät oder im frühen Erwachsenenalter konsumiert, könne es psychotische Zustände auslösen oder als Trigger eine bislang unerkannte Erkrankungsneigung verstärken, warnt der Chefarzt des Inn-Salzach-Klinikums.

„Medikamente
sind unerlässlich“

Generell lässt sich laut Professor Dr. Peter Zwanzger, Ärztlicher Direktor des Fachkrankenhauses für Psychiatrie, sagen: Der wichtige Botenstoff Dopamin im Gehirn ist bei Schizophrenie im Ungleichgewicht, das heißt fehlgesteuert. Die Folge: Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Dieses Überangebot an Dopamin lässt sich nach Zwanzgers Erfahrung „hervorragend behandeln“. „Medikamente sind unerlässlich“, betont auch Rentrop. Wie lange sie eingenommen werden müssen und wie häufig, das hänge ab von der Frage, wie ausgeprägt die Symptome seien. Wer zum ersten Mal erkranke und sofort medizinische Hilfe erhalte, könne die Medikamente oft nach ein bis zwei Jahren wieder absetzen. 20 Prozent aller Betroffenen müssten jedoch aufgrund einer Chronifizierung ein Leben lang Arzneimittel einnehmen.

Patienten davon zu überzeugen, ist eine große Herausforderung, berichtet Rentrop aus dem Klinikalltag. Dabei sei das nichts anders als bei vielen anderen Menschen auch: Patienten, die regelmäßig ein Blutdruckmedikament einnehmen sollten oder wegen eines Asthma-Leidens zweimal täglich ein Spray inhalieren müssten, würden diese medikamentösen Empfehlungen auch häufig nicht so umsetzen, wie es sich die Ärzte wünschen. Oft mit fatalen Konsequenzen für die langfristige Gesundheit.

Bei Schizophrenie gebe es mittlerweile eine große Bandbreite an Medikamenten. Mit Blick auf die Nebenwirkungen könne in der Regel ein gut verträgliches Mittel gefunden werden, betont Rentrop. Es gebe außerdem noch die Möglichkeit eines Depot-Präparats, das per Injektion beispielsweise einmal im Monat gegeben wird.

Halluzinationen und
Wahnvorstellungen

Betroffene sollten diese Hilfen annehmen, denn die seelische Not sei in der Regel groß. Das Gehirn sei in einer fortgeschrittenen Phase der Erkrankung nicht mehr in der Lage, wichtige Informationen von unwichtigen zu unterscheiden. Patienten könnten sich oft nicht mehr konzentrieren, würden etwa am Arbeitsplatz oft den Faden verlieren. Die Leistung nehme dann ab. Entlassung drohe. Auch der Alltag daheim werde oft kaum noch bewältigt. In dieser Phase ist nach Erfahrungen des Chefarztes die Suizidrate besonders hoch, weil sich auch eine Depression entwickle.

Frühe Behandlung
ist das A und O

Der Mörder von Oberarzt Rainer Gerth leidet unter paranoider Schizophrenie, eine häufige und oft schwer verlaufende Form der Erkrankung mit Halluzinationen und Wahnvorstellungen. In diesem Stadium lauerte er dem Mediziner auf, um ihn zu töten.

Tatsache ist: „Die Rate an Rechtsbrüchen ist bei Menschen, die an Schizophrenie erkrankt sind, nicht höher als in der Gesamtbevölkerung“, betont Zwanzger. Das Risiko, während akuter Phasen der Erkrankung eine Gewalttat zu verüben, sei jedoch erhöht. In der Regel würden Übergriffe dieser Art jedoch unter Einfluss von Drogen, Alkohol oder anderweitigen Sucht-Substanzen stattfinden, so Rentrop. Auch das passt zum Mörder von Oberarzt Gerth: Dominik S. hatte bereits im Jugendalter eine Drogenkarriere begonnen, die sich weiter fortsetzte.

Also seien das A und O der Prävention die frühe Behandlung einer Schizophrenie und die konsequente Fortführung medikamentöser Therapien. Doch was tun, wenn der Patient nicht will? Rentrop verweist diesbezüglich auf eine schwierige Thematik. „Jeder Mensch hat quasi auch ein Recht auf Krankheit. Wenn er will, darf er sich einer Behandlung widersetzen, auch wenn diese notwendig wäre.“ Dazu bemüht der Spezialist für schizophrene Psychosen erneut ein Beispiel aus der somatischen Medizin: Wer zuckerkrank sei, aber kein Insulin nehmen wolle, könne und dürfe dies unterlassen.

Eine intensive
Nachbetreuung nötig

Die Behandlungsbedürftigkeit, um den Betroffenen oder sein Umfeld zu schützen, müsse ein Gericht bestätigen. Bis ein Beschluss gefallen sei, dauere es. Zwei Wochen lang müsse ein Behandlungsteam aus Pflegepersonal, Psychologen, Sozialarbeitern und Ärzten Patienten eine Behandlung anbieten. Lehne der Betroffene diese ab, müsse ein Gutachten über die Rechtmäßigkeit dieses Verhaltens erstellt werden. Erst wenn ein unabhängiger Experte zum Ergebnis komme, dass eine Therapie auch zwangsweise durchzuführen sei, könne eingeschritten werden.

Wer einsichtsfähig sei, sich stationär einstellen lasse, müsse danach intensiv nachbetreut werden, betont Rentrop. Auch hier gebe es ein großes Spektrum an ambulanten Möglichkeiten: sozialpsychiatrische Dienste, Tageskliniken, Institutsambulanzen wie jene des Inn-Salzach-Klinikums mit Standorten in Wasserburg, Rosenheim, Ebersberg, Altötting und Freilassung.

„Wir finden fast
immer gute Lösung“

Diesbezüglich ist das System in Bayern laut Rentrop vorbildlich aufgestellt. Es gebe auch therapeutische Wohngemeinschaften, Reha- und Trainingsprogramme und Selbsthilfegruppen. „Wir finden fast immer eine Lösung und einen guten Platz, vor allem für junge Leute.“ Wichtiger Lotse: der niedergelassene Psychiater. Die Zahl der Praxen ist in den vergangenen Jahren jedoch deutlich zurückgegangen, die Wartelisten sind oft lang.

Grundsätzlich ist Schizophrenie nach seinen Erfahrungen gut behandelbar. Mit Betroffenen zu arbeiten, sei sehr befriedigend, berichtet der 61-Jährige, der vor 40 Jahren im ISK seine Karriere als Krankenpfleger begann und sich in dieser Ausbildungszeit entschied, Psychiater zu werden. „Denn es ist eine große Freude, zu sehen, wie Patienten, die in einem Zustand der Verworrenheit und geprägt von Wahnvorstellungen zu uns kommen, wieder zu ihrem ursprünglichen Sein zurückfinden.“

Trotzdem ist der Klinikalltag mit schizophrenen Patienten anstrengend und herausfordernd, räumt Rentrop ein. Ärzte, Pflegekräfte und Therapeuten benötigen eine hohe Resilienz. Sie würden umfangreich geschult, unter anderem im De-Eskalationstraining, um mit Menschen umgehen zu können, die objektiv irrational handeln. „Wir wissen: Das ist kein schlechter Mensch, er ist so, weil er innerlich nicht anders kann. Und wir können ihm helfen, aus dieser für ihn quälenden Situation herauszukommen.“

Betroffene in Sorge
vor Stigmatisierung

Der Mord an Oberarzt Rainer Gerth hat trotzdem nicht nur in der Klinik für forensische Psychiatrie, in der Straftäter mit psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie untergebracht sind, sondern auch auf den offenen und geschützten Stationen der Allgemeinpsychiatrie Sorgen ausgelöst, berichtet Rentrop.

„Das Geschehen hat unsere Patienten sehr betroffen gemacht, auch weil sie eine Stigmatisierung befürchten. Viele fragten sich: Kann ich sagen, dass ich an Schizophrenie erkrankt bin? Gebe ich es lieber nicht preis, um nicht als gefährlich gebrandmarkt zu werden?“ Der Beratungsbedarf sei diesbezüglich hoch. Ein Viertel aller Patienten in der Allgemeinpsychiatrie im ISK, das pro Jahr laut Zwanzger 8500 Aufnahmen verzeichnet, leide an einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis. In der Forensik, die straffällig gewordene Betroffene aufnimmt, gebe es pro Jahr etwa 150 Aufnahmen.

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