Wenn die Blaue der Flut davonläuft

von Redaktion

BRK-Retter Gery Puhl: Mit Menschlichkeit stets alle Trümpfe in der Hand

Rosenheim/Mühldorf – Wenn andere am Gardasee mit ihrem Aperol Spritz in der Sommersonne sitzen, besucht Gery Puhl (41) lieber ein Denkmal im nahen Solferino. Wenn andere an Silvester die Korken knallen lassen, schiebt der BRK-Rettungssanitäter Dienst im Beruf. Menschen wie ihm ist die Weihnachtsaktion „OVB-Leser zeigen Herz“ gewidmet.

Die Gesellschaft sei gespaltener denn je, heißt es gern – voller Querdenker, Systemlinge, Gutmenschen, Populisten, Kriegstreiber, Möchtegernpazifisten, Klimakleber, Klimaleugner, Verschwörungstheoretiker, Ewiggestrige, Putinversteher, Amerikafreunde, „Impfluenzer“, Coronaleugner. Und so weiter. Aber ist das wirklich so?

Die Welt von Gery Puhl und mehreren Tausend ehrenamtlichen Rotkreuzhelfern in der Region sieht ganz anders aus. Rosarot ist auch sie nicht, oft sogar sehr blutrot, doch dort geht es nicht um Ab- und Bewertungen, sondern ums Miteinander: „Wir reichen den Menschen bedingungslos die Hand“, sagt der 41-Jährige, der in Feldkirchen-Westerham aufgewachsen ist und jetzt in Bruckmühl lebt.

Die sieben Grundsätze der Rotkreuz-Bewegung, die 1859 mit dem Schweizer Humanisten Henry Dunant auf den Schlachtfeldern von Solferino am Gardasee ihren Anfang nahmen – Gery Puhl kann sie wie aus der Pistole geschossen herunterbeten: Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit, Freiwilligkeit, Universalität, Einheit. „Wir Rotkreuzler leben diese Werte – in guten wie in schlechten Zeiten.“

Da gehen ganze
Wochenenden drauf

Schlechte Zeiten – das waren heuer zum Beispiel die Hochwasser-Tage Anfang Juni 2024. Auch Puhl und seine ehrenamtlichen Kollegen von der BRK-Bereitschaft Feldkirchen-Westerham eilten ins Inntal, verwandelten die Raublinger Gemeindehalle auf die Schnelle in eine Notunterkunft und kümmerten sich um die Flutopfer, die zumindest vorübergehend keine Bleibe mehr hatten. Manche kamen Stunden später bei Verwandten unter, andere mussten in der Halle übernachten – ein langer und kräftezehrender Einsatz, auch für die Helfer. Puhl ist – wie so viele andere BRK-Kräfte – Retter mit Leib und Seele. Obwohl erst 41, darf er 2024 schon sein 25-Jähriges als Ehrenamtlicher feiern. 1999 trat er mit 16 der BRK-Bereitschaft bei und heute steht er nicht nur Menschen in Extremsituationen wie Hochwasser bei, sondern gibt zudem sein Wissen weiter an den BRK-Nachwuchs – als Ausbilder für den Sanitäts- und Betreuungsdienst. Fünf Kurse hat Puhl 2024 geleitet – insgesamt 160 Unterrichtseinheiten zu je 45 Minuten, plus Vorbereitung, Organisation, Nacharbeit. Da gehen Wochenenden und Abende drauf, alles ehrenamtlich. Bei weiteren Kursen war er als Gastdozent dabei.

„Bei Katastrophen steht der Betreuungsdienst oft im Schatten anderer Einsatzbrennpunkte“, sagt Puhl. Klar: Der Betreuungs- und Verpflegungsdienst holt Mensch und Tier nicht aus kaputten Zügen, brennenden Scheunen oder überfluteten Häusern. Aber er hält die Rettungsmaschine im Hintergrund am Laufen – bei größeren Tragödien auch tagelang: mit gutem Essen, warmen Decken, heißem Tee, in Zelten und Hallen mit Bettenlagern, Tischen und Sitzgelegenheiten, alles aufgebaut innerhalb kürzester Zeit unter bestmöglicher Erfüllung aller Hygiene-Standards.

Gefragt ist dabei auch psychologisches Geschick: „Denn wir haben es mit Menschen zu tun, die zwar körperlich weitgehend unversehrt, aber psychisch extrem belastet sind, unter Stress oder unter Schock stehen. Manche bangen um ihre Angehörigen, andere um ihre Häuser.“ Aber die geschulten BRK-Kräfte haben für jeden und jede das passende Wort, die passende Zahnbürste, bei Bedarf über Ärzte und Kliniken die passenden Tabletten – oder das passende Spiel.

Schafkopfkarten sind in Südbayern die beliebteste Ablenkung. „Ich habe für Notfälle immer ein paar Packerl dabei“, verrät Puhl. Damit macht er bei den Kartlern immer einen Stich. Der Flut und den Sorgen mit der Blauen (das Gras-Ass) für einen Moment davonzulaufen: ein willkommener Glücksmoment in harten Zeiten. Noch besser: der wackelig-freche Eichel-Wenz ohne „oidn“ Unter, aber mit zwei „Spatzn“, der mit 61 Augen gewonnen wird.

Selbst ist Puhl kein Schafkopfer – allein schon aus Zeitgründen. Wenn andere abends oder am Wochenende ein Sau-Spiel auf die „Oide“ (das Eichel-Ass) machen oder sich „abspatzen“, gibt der 41-Jährige Seminare. Zudem kann jeden Moment der Rettungspiepser Alarm schlagen, und Schichtdienste kennt Puhl auch in seiner hauptberuflichen Tätigkeit beim Polizeiärztlichen Dienst in München.

Dass die OVB-Weihnachtsaktion die Anschaffung von zwei Katastrophen-Einsatzmobilen unterstützt, freut Puhl sehr. Eines soll im Bereich Rosenheim, ein zweites in Mühldorf stehen. „Von den Fahrzeugen können Betroffene und Helfer enorm profitieren“, betont er. Nur ein Vorteil von vielen: Die mit allem Drum und Dran ausgestatteten Einsatzwagen kommen auch dort noch weiter, wo andere im Schnee oder im Hochwasser stecken bleiben.

Für Silvester hat sich Puhl freiwillig zum Dienst im Norden der Republik gemeldet – „damit es nicht einen jungen Familienvater trifft“, sagt der Rotkreuzler, der verheiratet ist, aber selbst keine Kinder hat.

Als Leiterin der Jugendrotkreuzgruppe Feldkirchen-Westerham hat Ehefrau Isabella dafür Verständnis – und auch Familienhündin Sally wird damit klarkommen, dass sie über den Jahreswechsel auf Spaziergänge an der Mangfall mit dem Herrchen verzichten muss. Der Krach der Silvesterraketen wird dem Mischling zu schaffen machen.

Überweisungsträger
in dieser Ausgabe

Genauso ohrenbetäubend muss der Lärm auch damals gewesen sein, Ende Juni 1859 bei Solferino am Gardasee, wo sich Österreicher, Sarden, Piemontesen und Franzosen eine der fürchterlichsten Völkerschlachten des 19. Jahrhunderts lieferten. Henry Dunant, schockiert vom Leid und Elend, trieb daraufhin seine weltumfassende Bewegung voran und gründete das Rote Kreuz. Ob man ihn heute als Gutmenschen abtun würde?

Zahlscheine für die OVB-Aktion liegen heute bei.

OVB-Leser zeigen

Herz, Seite 38, 39