Schwieriger Zugang zur Gedankenwelt

von Redaktion

Profiler Axel Petermann zur Familientragödie in Rosenheim Interview

Rosenheim – Es war eine traurige Nachricht, die sich am ersten Weihnachtsfeiertag wie ein Lauffeuer in der Region verbreitete. In der Nacht auf den 25. Dezember soll eine Mutter (39) in einem Einfamilienhaus in der Rosenheimer Krainstraße ihre beiden Kinder (6/7) mit einem Werkzeug getötet und danach versucht haben, sich selbst das Leben zu nehmen.

Der deutschlandweit – auch aus dem Fernsehen – bekannte ehemalige Mordermittler und Profiler Axel Petermann hat selbst schon einige solcher Fälle bearbeitet. Im Gespräch mit dem OVB schätzt er die Rosenheimer Familientragödie ein, erklärt, wie oft Eltern ihre eigenen Kinder töten, und ob Taten, die womöglich auf eine psychische Erkrankung zurückzuführen sind, zunehmen.

Wie oft kommt es vor, dass Eltern ihre Kinder töten?

Die Tötung von Kindern durch Eltern ist ein seltenes Phänomen, aber es kommt eben leider vor. Sei es als Neonatizid, also der Tötung von Neugeborenen nach der Geburt durch die Mutter, durch Schütteltraumata, im Rahmen eines erweiterten Suizides – vornehmlich durch die Väter – in Trennungskonflikten oder in anderen psychischen und sozialen Ausnahmesituationen, um einige Beispiele zu nennen. Genaue deutschlandweite Zahlen habe ich nicht, aber ich habe selbst auch während meiner Zeit bei der Mordkommission vier oder fünf Fälle bearbeitet, bei denen Väter oder Mütter ihre Kinder getötet haben.

Sind es eher die Mütter oder die Väter, die töten?

Es hängt von der der Tat zugrunde liegenden Motivation ab. Wenn Männer töten, dann sehr oft in Zusammenhang mit Partnerschafts- und Trennungskonflikten. Wenn darin das Motiv steckt, dann kommt es vor, dass die Männer die Ex-Partnerin, die Frau oder eben auch die Kinder töten. Das kann auch im Rahmen des erweiterten Suizids sein, wenn die Männer ihr Leben bilanziert haben, sich als Bankrotteure sehen und sich aufgrund fehlender Perspektiven selbst töten wollen. Ich kann mich an einen Fall erinnern, bei dem ein Vater sich und seine beiden Kinder während einer Besuchszeit bei sich zu Hause tötete. Bevor er sich erhängte, ertränkte er eines der Kinder in der Badewanne beziehungsweise erdrosselte das jüngere der beiden im Bett.  Bevor er sich erhängte, schrieb er einen Abschiedsbrief mit Schuldzuweisungen an seine frühere Partnerin, die er für sein gescheitertes Leben verantwortlich machte. Töten Frauen, dann sind es – so meine Erfahrungen – eher alleinerziehende Täterinnen, denen die alltäglichen Belastungen mit Kindern irgendwann zu viel werden und verzweifelten.

Für viele wird es wohl dennoch unerklärlich sein, die eigenen Kinder zu töten. Sie haben einige Täter selbst vernommen – was kann einen Menschen dazu verleiten?

Häufig war der Ausdruck „Ich kann nicht mehr“ von Hilflosigkeit dabei. Oft ist es eben die Überforderung, in der die Täter keine realistischen, attraktiven Lebensmöglichkeiten und Perspektiven mehr sehen können. Und nicht selten liegt zudem auch eine psychische Erkrankung vor.

Die Tat in Rosenheim hat sich ausgerechnet an Weihnachten ereignet. Wie sehen Sie das aus kriminologischer Sicht?

Gerade an Feiertagen wie Weihnachten erleben wir immer wieder Familientragödien wie in Rosenheim. Das hängt damit zusammen, dass an solchen Tagen die familiäre und partnerschaftliche Anspannung besonders ausgeprägt ist – die Erwartungen bei den Kindern, die Furcht vor dem Versagen bei der Mutter, die Angst, alleine oder hilflos zu sein. Da kann die Verzweiflung sehr groß sein. Und dann war wohl letztendlich aus der Sicht der Mutter die logische Konsequenz, die Kinder und sich selbst zu töten. Und eben nicht nur sich alleine, weil die Kinder dann niemanden außer dem Erzeuger hätten. Der Heiligabend, als Fest der Familie, Liebe und der Gemeinsamkeit, kann auch förderlich bei solchen Gedanken sein. Da können sich Menschen besonders einsam fühlen oder sind verzweifelt, da rund um sie herum die vermeintlich heile Welt stattfindet. Jeder freut sich auf das Fest, jeder versucht, dem anderen etwas zu geben, und das war bei der Mutter möglicherweise nicht der Fall.

Und wie laufen die meisten Taten ab – zu welchen Mitteln greifen die Eltern?

Nach meiner Erfahrung sind es eher „leise“ Taten. Das kann Erdrosseln, Ertränken, Ertrinken oder die vorangehende Sedierung mit Medikamenten sein. Aber, wenn man jetzt zum Beispiel „nur“ die Hände benutzt, da gehört auch eine entsprechende Gewalteinwirkung auf die Kinder dazu. Das Erwürgen ist ein Akt, der sehr lange, teils mehrere Minuten dauert und von konvulsivischen Krämpfen – krampfartig zuckend – begleitet wird, die fälschlicherweise als vermeintliche Lebenszeichen angesehen werden und zur Gewaltsteigerung führen. Die Tötung erfolgt dann schon mit Vorsatz, wobei natürlich die Schuldfähigkeit in solchen Momenten stets gutachterlich zu prüfen ist.

Die Mutter hat bei der Tat ein Werkzeug verwendet. Was schließen Sie daraus?

Da kommt es immer darauf an, um welches Werkzeug es sich gehandelt hat. Ich nehme an, dass es sich um eine Waffe der Gelegenheit handelte, ein in der Wohnung vorhandenes Werkzeug, das von der Mutter problemlos genutzt werden konnte. Auch bei diesen Werkzeugen kann das Verletzungsmuster, zum Beispiel nach Stichen oder Schlägen, sehr gravierend sein. Wenn der Täter dem Opfer besonders viele Verletzungen zufügt, die gar erforderlich wären, um den Tod herbeizuführen, weil ein Bruchteil derer schon ausgereicht hätte, dann spricht man von einer Übertötung. Und dieses Übertöten ist eben sehr von Gefühlen bestimmt. Wut, Hass, Aggressionen und Verzweiflung können dieses Handeln veranlassen. Liegen solche massiven Verletzungen vor, sind die schon ein Ausdruck davon, dass Emotionen eine starke Rolle gespielt haben. Natürlich können aber massive und unkontrollierte Verletzungsmuster auch auf eine psychische Erkrankung zurückzuführen sein. Weil gerade die Gewalt bei der Rosenheimer Tat doch überschießend und sehr ausgeprägt zu sein scheint.

Meist liest man eher von Fällen, in denen Eltern Säuglinge töten. Hier waren die Kinder sechs und sieben Jahre alt – was verändert das Alter?

Sie sprechen jetzt von den bereits erwähnten Neonatiziden und von Schütteltraumata, bei denen Kinder beispielsweise unruhig waren, die Eltern störten und durch Schütteln „beruhigt“ werden sollten.

In Rosenheimer Fall muss man sich natürlich fragen, inwieweit das Geschehen geplant gewesen ist und wie der genaue Tatablauf war. Zum Beispiel muss man bedenken, dass das zweite Kind – für den Fall, dass sie geschlafen haben – bei der ersten Tötung aufwachen könnte.

Da – das ist aber jetzt reine Spekulation – es sich um ein Werkzeug gehandelt hat, könnte es zu einer schnellen Tatausführung mit hoher Frequenz und Intensität gekommen sein. Also ein schnelles Töten. Allerdings könnte die Mutter auch die Kinder separiert haben, sodass ein Kind von der ersten Tat nichts mitbekommen hat.

Die Polizei spricht von „psychischen Auffälligkeiten“. Welche Rolle spielt das für die Tat?

Dahinter können sich verschiedene Krankheitsbilder verbergen. Möglicherweise Depressionen, Wahnvorstellungen, Denkstörungen oder Halluzinationen. Und das kann sich zu einem Tunnelblick beziehungsweise einer Situation zugespitzt haben, die als bedrohlich oder gefährlich wahrgenommen wird, ohne dass tatsächlich solche Bedingungen vorlagen.

2024 gab es in der Region einen anderen Mordfall, bei dem der Täter unter einer psychischen Krankheit litt. Nehmen die Fälle zu?

Zahlen belegen, dass die Unterbringung von psychisch erkrankten Straftätern in den Maßregelvollzug in den vergangenen Jahren kontinuierlich zugenommen hat und die Kliniken überbelegt sind. Gründe dafür könnten sein, dass schizophrene Erkrankungen ansteigen zu scheinen oder diese Krankheiten besser erkannt werden und dann auch im Urteil Niederschlag finden.

Wie schwierig ist die Ermittlungsarbeit in solchen Fällen – insbesondere die Vernehmungen?

Es muss nicht schwieriger sein als mit allen anderen Tätern.

Die Antworten, die man dann bekommt, sprechen ja vielleicht für sich, lassen Einblick in die Gedankenwelt der Täter zu, auch wenn sie für die Ermittlungsbeamten nicht nachvollziehbar sein müssen. interview Julian Baumeister

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