Karenztag sorgt für Kritik

von Redaktion

Wer aus gesundheitlichen Gründen nicht in die Arbeit kann, soll bereits ab dem ersten Tag nicht mehr bezahlt werden. Über diesen Vorschlag wird derzeit heftig diskutiert. Für wen das drastische Folgen hätte und wie es in der Region beim „Blaumachen“ aussieht.

Rosenheim/Mühldorf – Ein leichtes Kratzen im Hals, eine laufende Nase oder ein Zwicken im Bauch – es sind Symptome, die wohl jeder schon einmal hatte. Und sich deshalb überlegt hat, ob es sinnvoll ist, in die Arbeit zu gehen. Oder sich nicht doch lieber auf der Couch auszuruhen. Schließlich ist es in den meisten Unternehmen möglich, ein bis zwei Tage ohne Krankschreibung daheim zu bleiben – und dafür bezahlt zu werden. Wenn es nach dem Allianz-Chef Oliver Bäte geht, soll damit aber Schluss sein.

Kein Geld mehr bei erstem Krankheitstag

Er forderte Anfang Januar, dass die Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag gestrichen wird. Heißt: Jeder, der krank zu Hause bleibt, muss die Kosten dafür selbst übernehmen. Als Rechtfertigung für seinen Vorschlag nennt Bäte, dass sich in Deutschland Arbeitnehmer zu häufig krankmelden und dies die Arbeitgeber auf Dauer zu sehr belastet. Daher sei es notwendig, dass sich Beschäftigte einen Karenztag – Freistellung ohne Bezahlung – nehmen, wenn sie krankheitsbedingt nicht in die Arbeit gehen können.

Während es für die Idee heftige Kritik aus Reihen der Politik und Gewerkschaften gibt, kann Andreas Bensegger, Vorsitzender des Regionalausschusses Rosenheim der Industrie- und Handelskammer (IHK) und selbst Unternehmer, teilweise einige Punkte der Überlegungen verstehen. „Es ist nachvollziehbar, dass sich Unternehmen Gedanken machen, wie hohe Krankenstände und die damit zusammenhängenden hohen Kosten gesenkt werden können“, findet er. Und um das zu schaffen, könnten finanzielle Abstriche bei der Entgeltfortzahlung hilfreich sein.

Dass die Krankheitstage den Arbeitgebern wehtun, kann Bensegger auch bestätigen. „Erkrankte Arbeitnehmer bedeuten für Arbeitgeber, dass für den Zeitraum der Krankheit bis zu sechs Wochen Entgeltfortzahlung gezahlt werden muss – ohne eine Gegenleistung in Form von Arbeit“, erklärt er. Als Folge müsse aber trotzdem dafür gesorgt werden, dass die liegengebliebene Arbeit des kranken Mitarbeiters erledigt wird, zum Beispiel von einem Kollegen, kurzfristigen Aushilfen oder sogar externen Dienstleistern.

„Und damit trägt die Wirtschaft, das muss man ganz nüchtern betrachten, erhebliche Mehrkosten, die im Zweifelsfall auch deutliche Wettbewerbsnachteile bedeuten können“, gibt Bensegger zu bedenken. Vor allem, weil die Krankheitstage pro Jahr in der vergangenen Zeit – quer durch alle Branchen – in die Höhe geschossen sind.

Krankmeldungen
sind genauer erfasst

Den Grund dafür glaubt Dietrich Mehl, Kreisgeschäftsführer des Sozialverbandes VdK Rosenheim, zu kennen: „Seit drei Jahren wird die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung elektronisch an die Krankenkassen gemeldet, damit ist die Erfassung der Krankenstände genauer geworden.“ Früher musste der Arbeitnehmer die Krankmeldung noch selbst an den Arbeitgeber und die Krankenkasse weiterleiten. „Gerade bei kurzen Ausfallzeiten von ein bis drei Tagen ist da wahrscheinlich vieles untergegangen, weil die Meldungen nur in der Arbeit abgegeben wurden“, glaubt Mehl.

Wenig „Blaumacher“ in der Region

Das beobachtet auch Dr. Michael Iberer, Vorsitzender des ärztlichen Kreisverbandes Rosenheim, in seiner Praxis. Die Zahl der von ihm ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU) sei auch nicht wesentlich höher als sonst. „Ebenso sehe ich keine Veränderungen in den Gründen für eine AU in den vergangenen fünf Jahren“, sagt der Mediziner. Nach wie vor dominierten Infektionskrankheiten, orthopädische Beschwerden und psychische Erkrankungen.

Ob der ein oder andere Patient dabei mal schwindelt, um eine Krankmeldung zu bekommen, will der Arzt nicht ausschließen. „‚Blaumacher‘ gibt es sicherlich gelegentlich, jedoch handelt es sich meines Erachtens um eine verschwindend geringe Anzahl“, sagt er. Einen Simulanten zu erkennen, sei allerdings nicht immer einfach, da viele Beschwerden „nur schwer objektivierbar sind“. „Wenn ein Patient über nächtliches Erbrechen und Übelkeit klagt, Frauen über Menstruationsbeschwerden berichten oder allgemein Bauchschmerzen angeben, vertrauen wir diesen Angaben zunächst“, betont der Mediziner. Nur bei auffälligen Häufungen werde entsprechend nachgefragt. Das seien aber Ausnahmen. Die Forderung nach einem Karenztag stelle allerdings erstmal alle Arbeitnehmer „unter Generalverdacht, ständig blauzumachen“, sagt Dietrich Mehl. Daher sehe er das „sehr kritisch, unfair und sozial ungerecht.“ Vor allem mit Blick auf die Unterschiede beim Gehalt. Besserverdiener könnten sich auch bei Krankheit mal einen Tag daheim zum Auskurieren „leisten“. „Geringverdiener eher nicht, wenn ihnen der Krankheitstag vom Lohn abgezogen wird“, sagt Mehl. Die Folge sei, dass sich diese dann trotz Krankheit in die Arbeit schleppen.

Risiko durch
kranke Kollegen

Darin sieht auch Iberer ein „erhebliches Risiko“. „Bereits jetzt beobachten wir häufig, dass Mitarbeiter aus Kollegialität angeschlagen zur Arbeit kommen“, sagt der Arzt. Dies führe entweder dazu, dass Kollegen angesteckt werden, oder, dass die Betroffenen letztlich deutlich länger ausfallen, als wenn sie frühzeitig zu Hause geblieben wären. Um das zu vermeiden, sei die Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag ein wichtiger Beitrag, sagt auch Andreas Bensegger. „Die Wirtschaft, und da vor allem der Mittelstand, hat ein vitales Interesse, dass es unseren Arbeitnehmern gut geht“, betont er.

Belastung für das Vertrauensverhältnis

Auch Jörg Neimcke, Vorsitzender des Industrie- und Wirtschaftsverbundes Mühldorf und Geschäftsführer eines Unternehmens, sieht die Einführung des Karenztages aus den gleichen Gründen skeptisch. Zudem besteht ihm zufolge eine Gefahr für das Betriebsklima. „Ein solcher Karenztag könnte das Vertrauen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer belasten“, sagt er.

Die Mitarbeiter könnten das Gefühl bekommen, dass man ihnen unterstellt, sie würden Krankheitstage „ausnutzen“. „Daher würde ich eher auf vertrauensbasierte Lösungen und Präventionsmaßnahmen setzen, um Fehlzeiten zu reduzieren“, sagt er.

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