Die Frage nach dem „Warum“

von Redaktion

Interview Wie Polizisten bei traumatischen Ereignissen helfen

Rosenheim – Sie sind da, wenn es um Mord, schlimme Unfälle und andere traumatische Ereignisse geht – Florian Ertl, stellvertretender Dienststellenleiter der Verkehrspolizeiinspektion Traunstein, und Bernhard Dusch, Dienststellenleiter der Polizeiinspektion Trostberg. Während Ertl als sogenannter „Peer“ die erste Betreuung von Kollegen übernimmt, ist Dusch Teil einer speziellen Betreuungsgruppe, die sich um Angehörige und Zeugen kümmert. Anhand der schlimmsten Fälle in der Region, wie der Rosenheimer Familientragödie an Weihnachten, bei der zwei Kinder von ihrer Mutter getötet wurden, erklären die beiden Experten, wie Menschen vor Ort auf den Schock reagieren und wie ihnen im ersten Moment geholfen werden kann. 

Laut einer Statistik erleben Polizisten dreimal in der Woche ein potenziell traumatisches Ereignis. Würden Sie das bestätigen?

Florian Ertl: Ehrlich gesagt sind mir keine Statistiken dahingehend bekannt. Das kann ich daher nur aus meinem Bauchgefühl heraus beantworten. Ich denke, es kommt auf die Situation und auf den Kollegen an. Bei einem ist die Belastung höher, für einen anderen ist es noch ein alltäglicher Einsatz. Dabei sprechen wir nicht immer von tiefschürfenden Ereignissen, die dann noch Jahre im Kopf bleiben. Von daher könnte die Zahl schon passen.

Sind alle Polizisten davon betroffen?

  Ertl: Es ist für mich so: Jeder hat sein eigenes Weltbild. Durch unsere Ausbildung wird es schon mal größer. Dann haben wir unsere Berufserfahrung, dadurch wird es noch größer. Alles, was jetzt in diesem großen Kasten ist, können wir gut verarbeiten. Wenn dann aber irgendein Ereignis kommt, das außerhalb davon liegt, dann schaffe ich das nicht mehr. Das ist der Bereich, wo wir ins Spiel kommen.

 

An Weihnachten gab es einen schlimmen Fall, bei dem eine Mutter ihre beiden Kinder umgebracht hat. Wie haben Ihre Kollegen darauf reagiert?

Bernhard Dusch: Ich glaube, im ersten Moment funktionieren sie einfach. Man hat regelmäßig ein Einsatztraining, wo man solche Situationen in der Theorie trainiert und übt. Wenn der Fall dann aber wirklich eintritt, ist das trotzdem eine erhebliche Belastung. 

Ertl: Jeder empfindet das anders. Dass das schrecklich ist, das ist klar. Aber wenn man selbst Kinder hat, dann ist das vielleicht noch viel intensiver und belastet einen viel mehr als andere Kollegen. In Rosenheim waren ganz junge Kolleginnen vor Ort, die noch nicht lange im Polizeidienst sind. Sie haben solche Bilder noch nie gesehen. Die hat das sehr angefasst und es war schon vor Ort durch externe Hilfe ein Betreuungsangebot da. Wir haben dann später mit unseren Kräften übernommen. 

Welche Rolle übernehmen Sie dann?

Ertl: Als sogenannter „Peer“, das bedeutet übersetzt Gleichgestellter, sind wir direkt vor Ort und geben den Kollegen ein bisschen Stabilität. Danach kommt es immer darauf an. Mancher Kollege hat vielleicht einen kirchlichen Draht. Der sagt, ich möchte jetzt auf die Polizeiseelsorge zugreifen. Andere wollen mit einem Psychologen reden. Später setzt man sich zusammen, federführend mit unserer psychosozialen Fachkraft. 

Dusch: Es ist auch wichtig, zu sagen, dass wir dabei „nur“ Polizisten mit einer Zusatzausbildung sind. Die Fachkräfte sind eigentlich von Anfang an mit eingebunden und wir arbeiten eng mit ihnen zusammen. Mittlerweile ist das auch auf jeder Checkliste für Einsätze. Das war vor 20 Jahren ganz anders.

Was sind klassische Reaktionen nach so einem Trauma?

Ertl: Es können körperliche Anzeichen sein:  Schwitzen, Schlafstörungen, Herzrasen, Kopfschmerzen. Oder es äußert sich in gegenteiligem Verhalten. Einer, der ganz lustig war, ist auf einmal zurückhaltend oder ungewöhnlich aufgedreht. Andere kriegen die Bilder nicht mehr aus dem Kopf, können eine bestimmte Strecke nicht mehr fahren oder erinnern sich bei ähnlichen Einsätzen an das Erlebte. 

Haben Sie selbst Bilder, die Sie nicht mehr vergessen können?

Ertl: Ich habe eine Situation in Erinnerung, die mindestens schon 20 oder 25 Jahre her ist. Das waren zwei 17-jährige Motorradfahrer, die aus einer Einfahrt rausgefahren sind und von einem Auto übersehen wurden. Beide sind an der Unfallstelle gestorben. Von einem der beiden hat ständig das Handy geklingelt, und ich habe mir gedacht: Den will bestimmt jemand erreichen, der sich Sorgen macht. Das ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. Ich glaube, man verarbeitet es – aber vergessen tut man es nie. 

Was sind die ersten Schritte als „Peer” vor Ort?

Ertl: Das ist sehr individuell. Ich schaue, dass ich immer was zu trinken dabei habe. So banale Dinge werden oft vergessen in den schrecklichen Situationen. Bei dem Fall in Grassau, bei dem vergangenes Jahr ein Mann seine Mutter als Geisel genommen hatte und der dann von einem Polizisten erschossen worden ist, bin ich alarmiert worden und habe zuerst ein paar Flaschen Wasser eingepackt. Wichtig ist, dass man die Kollegen einfach ein bisschen aus dem Einsatz herausnimmt, wenn sie wollen. Ich gebe zudem Tipps, was kommen könnte. Dass man zum Beispiel sagt: Wenn du jetzt schlecht schläfst, dann ist das eine normale Reaktion auf ein nicht normales Ereignis. Da gehen wir aber nicht groß in die Tiefe, sondern stabilisieren eigentlich nur. Und wenn die Kollegen irgendwann wieder so weit sind, dass sie weiterarbeiten können, dann dürfen sie auch wieder. 

Dürfen das die Kollegen komplett selbst entscheiden?

Ertl: Es gibt keinen Standard. Wenn einer sagt, mir geht es gut und ich mag jetzt wieder arbeiten, weil ihm die Kollegen Halt und Kraft geben, dann darf er das.

Dusch: Vielleicht mit einer Einschränkung. Wenn jemand arbeiten will, er aber total hibbelig, emotionsgeladen und nervös ist, dann macht er natürlich keinen Dienst. 

Gibt es Polizisten, die nie mehr in den Dienst zurückkamen?

Ertl: Persönlich ist mir kein Fall bekannt, aber ich weiß, dass es solche Fälle gegeben hat. Dass Kollegen monatelang mit sich gekämpft haben, aber den Dienst am Ende einfach nicht mehr ausführen konnten. 

Inwieweit sind Polizisten bei Einsätzen selbst eine Stütze für Angehörige oder Zeugen vor Ort?

Dusch: Im Einsatz funktionieren Polizisten erstmal. Man kommt zum Einsatz, man hat eine Aufgabe und dann versucht man, die Aufgabe zu bewältigen. Von dem her sind die Kollegen eigentlich immer erst einmal ein Halt für die Unbeteiligten. Aber mittlerweile kommt schnell Hilfe von uns als Betreuungsgruppe oder auch dem Kriseninterventionsteam.

Wie muss man sich die Arbeit mit Zeugen und Angehörigen vorstellen?

Dusch: Wir nehmen den ersten Kontakt auf und bieten an, dass wir als Ansprechpartner für die Person zur Verfügung stehen. Wenn das Angebot angenommen wird, gibt es meistens ganz viele Fragen. Es geht bei den einfachsten Dingen los. Wie kommen wir jetzt an einen Gegenstand, der am Tatort ist? Oder was passiert, wenn es zu einer Obduktion kommt? Viele wollen dann auch den Unglücksort sehen, wo das Ganze passiert ist. Da schauen wir, dass wir sie dahin begleiten. 

Was ist in solchen Momenten die erste Frage der Betroffenen?

Dusch: Am Anfang ist es oft das Verstehen, was überhaupt passiert ist und dass das wirklich Realität ist. Der nächste Schritt ist dann, damit umgehen zu lernen, was auch am Anfang in einem gewissen Funktionsmodus abläuft. Und später kommen dann die Detailfragen – und die Fragen nach dem „Warum“.

Ertl: Es gibt viele Fragen nach dem „Warum“. Das Verstehen-Wollen, das Begreifen-Können: Warum ist das jetzt so passiert? Das ist eine Frage, die wir im ersten Moment selten beantworten können.

Was machen Sie, wenn Sie keine Antwort parat haben?

Dusch: Man sollte nicht versuchen, unbedingt eine Erklärung zu finden. Das haben wir jetzt zum Beispiel bei dem Vorfall in Rosenheim an Weihnachten. Wir haben da die Schule und den Kindergarten beraten. Dort war die Frage nach dem „Warum“ auch ein Thema. Und es ist natürlich für die Polizei nicht sinnvoll, irgendeine Erklärung zu finden, die am Ende vielleicht gar nicht stimmt. 

Wie lange dauert so eine Betreuung?

Dusch: Ganz unterschiedlich. Wenn alles geklärt ist, kann sie am selben Tag beendet sein. Oder es ist wie im Mordfall Hanna, wo wir aufgrund immer neuer Entwicklungen die Familie länger als ein Jahr betreut haben. Für die Langzeitbewältigung braucht es aber ohnehin fachliche Hilfe, die wir nicht leisten können. 

Wie oft kommen Sie in Ihrem Nebenamt zum Einsatz?

Dusch: Bei der Betreuungsgruppe für Angehörige und Zeugen kann man sagen, dass wir bei der Dienststelle Oberbayern Süd ungefähr alle zwei Monate einen größeren Fall haben. Wir haben dafür ungefähr 40 Kollegen mit einer Zusatzausbildung.

 

Ertl: Bei den „Peers“ ist es nicht ganz so häufig. Wir sind nicht ganz so viele, aber jeder Einzelne kommt wahrscheinlich zwei-, dreimal pro Jahr zu einem großen Einsatz dazu. 

Reicht das aus, um Angehörigen und Kollegen zu helfen, oder würden Sie sich mehr wünschen?

Ertl: Ich würde sagen, dass wir flächendeckend sehr gut aufgestellt sind. Und wir unterstützen uns gegenseitig. Wenn was Größeres ist, dann fahren wir auch nach Garmisch-Partenkirchen, da ist kein Weg zu weit, keine Stunde zu spät und da gibt es auch kein Wochenende. Das macht man, weil man es gern macht.  Korbinian Sautter

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