Wasserburg – Sie blickt von außen auf den Raum Rosenheim: Eva Lettenbauer (32), Vorsitzende der Grünen in Bayern, reiste für den Bundestagswahlkampf aus dem ländlichen Schwaben an. Die Wirtschaftsingenieurin stellte sich im Interview auch Fragen nach lokalen Aufregerthemen. Über den Versuch, das große Ganze zu sehen und die Sorgen der Menschen in der Region.
Die Migration ist das Mega-Thema im Wahlkampf. Die Gemeinde Rott sieht sich durch eine geplante große Unterkunft überfordert und ein grundsätzliches Problem: Unterkünfte würden vor allem dort entstehen, wo der Immobilienmarkt eine Chance biete. Wie stehen Sie zur Forderung, der Freistaat müsse die gesetzlichen Rahmenbedingungen für eine paritätische, also faire Verteilung der Geflüchteten schaffen?
Auf Bundesebene erfolgt die Verteilung nach dem Königsteiner Schlüssel. Das ist schon seit vielen Jahrzehnten ein verwendeter Verteil-Mechanismus, der sich bewährt hat. Ich komme ja selber aus einem 60-Seelen-Dorf. Deshalb weiß ich, wie wichtig es ist, genau hinzuschauen, damit das Verhältnis an Geflüchteten zur Gesamtbevölkerung passt, damit Integration gelingen kann. In der politischen Debatte beginnt die faire Verteilung bereits in Europa. Deshalb ist es für Deutschland wichtig, dass die Beschlüsse zur europäischen Zusammenarbeit umgesetzt werden. Um Menschen vor Ort integrieren zu können, muss es genug bezahlbare Wohnungen und Kita-Plätze geben. Mir ist es grundsätzlich wichtig, Leute, die keine Wohnung haben, nicht gegeneinander auszuspielen. Deshalb setze ich mich auch dafür ein, dass die Kommunen nicht alleine gelassen werden, dass Land und Bund mehr unterstützen, auch indem mehr Geld für Kita-Plätze oder bezahlbares Wohnen zur Verfügung steht.
Wäre es nicht wichtig, dass der Freistaat einen Verteilungsschlüssel für die Kommunen per Gesetz schafft?
Es gibt, wie gesagt, bereits eine Verteilung, etwa zwischen den Bezirken. Nach Oberbayern kommen etwas mehr als 33 Prozent der Geflüchteten. Von der Bezirksebene aus geht es mit der Verteilung weiter auf die jeweiligen Landkreise, dann innerhalb der Landkreise. Ich wiederhole: Hier ist es wichtig, dass wirklich alle Gemeinden und Städte auch Unterkunftsmöglichkeiten und Wohnraum haben. Der erste Schritt muss sein, für eine generell gute Infrastruktur vor Ort zu sorgen.
In Rott reicht diese Infrastruktur nach Überzeugung der Gemeinde nicht aus. Haben Sie Verständnis dafür, dass eine Kommune wie Rott juristische Wege geht?
Ja, das ist absolut nachvollziehbar.
In den Hintergrund geraten im Bundeswahlkampf soziale Themen. Im Wasserburger und Haager Land kritisieren jedoch viele Leser, dass es zu wenig bezahlbaren Wohnraum gibt. Welche Lösungsansätze haben die Grünen?
Für jüngere Leute, egal ob in Ausbildung oder zu Studiumzeiten, braucht es mehr Wohnraum und auch Wohnheime. Diese gibt es in Bayern gerade für Auszubildende deutlich zu selten. Für neu zu bauende Azubi- oder Studierendenwohnheime gibt es jetzt vom Bund deutlich mehr Geld. Für Familien muss das Mieten bezahlbar sein. Da setze ich mich dafür ein, dass die Mietpreisbremse verlängert wird. Aber auch für Leute, die ein Eigenheim bauen wollen, muss dies bezahlbar sein. Ich möchte, dass junge Familien besser unterstützt werden mit Krediten und Zuschüssen, vor allem für klimaneutrales und gut gedämmtes Bauen, was sich ja aufgrund der Einsparungen beim Wärmeverbrauch auch auszahlt.
Bei älteren Immobilien ist es uns ein großes Anliegen, das Sanieren in den Fokus zu rücken. Da ist ja jetzt durch die Verbesserungen im Gebäudeenergiegesetz schon sehr viel Geld nach Bayern geflossen. Das wollen wir Grüne unbedingt beibehalten, mit bis zu 70 Prozent Unterstützung bei einem Heizungstausch, aber auch bei anderen Sanierungsmaßnahmen. Nicht zuletzt ist auch der Freistaat Bayern in der Pflicht, mehr Sozialwohnungen zu bauen. Dafür, finde ich, müssen Land und Bund zusammenarbeiten und mehr Geld bereitstellen. Auch für Senioren ist das Wohnen ein großes Thema. Ich finde, dass die Konzepte zum Mehrgenerationenwohnen total gut sind. Auch das betreute Wohnen muss unbedingt ausgebaut werden. Ein gutes Modell für bezahlbares Wohnen ist auch der Genossenschaftsbau.
In Amerang schwelt seit 20 Jahren ein Umweltskandal: Plastik-Granulat verunreinigt das Freimoos und die Seen. Grundeigentümer Ortholf von Crailsheim und eine Bürgerinitiative kämpfen seit langem um Schadensbegrenzung. Haben die Grünen in Bayern dieses Mega-Umwelt-Thema nicht auf dem Schirm?
Das ist ein sehr komplexes Thema. Ich weiß, dass meine Landtagskollegin Claudia Köhler schon vor Ort war und sich umfangreich informiert hat. Klar, es gibt einen Umweltskandal und die Söder-Regierung lässt das so geschehen.
Im Bemühen um Lösungsansätze geht anscheinend im Dickicht der Behörden nichts voran, Wie kann so etwas sein? Wird das ein Jahrhundertproblem?
Ich bin auch entsetzt über diese Plastikverunreinigungen. Klar ist für mich, dass es auf jeden Fall ganz wichtig ist, das weiter zu beobachten. Es gibt ja Stand jetzt keine neuen Verunreinigungen und es geht keine direkte Gefahr von dem Plastik aus. Wichtig ist es, zu schauen, auch flussaufwärts, dass keine weiteren Verunreinigungen kommen und alles einem Monitoring zu unterziehen. Wer am Ende eine Entsorgung vornehmen kann, das ist meines Wissens nach tatsächlich ungeklärt, weil es ja keine direkte Rechtsgrundlage gibt.
In München und Berlin dafür, vor Ort meistens dagegen: Sind die Grünen in Sachen Brenner-Nordzulauf schizophren?
Am Ende hat die Politik die Aufgabe, eine klare Strategie zu verfolgen. Wir Grüne halten Kurs beim Schutz des Klimas und unserer Lebensgrundlagen. Dazu gehört auch, und das teilen ja auch viele Bürgerinnen und Bürger, dass wir ein gut ausgebautes Bahnnetz brauchen, sowohl für den Personen-, als auch für den Güterverkehr. Deshalb muss es, das große Ziel sein, diese Strecke auszubauen. Vor Ort denkt man natürlich anders darüber. Ich kann das verstehen. Viele Anliegen, etwa zum Lärmschutz, sind jedoch auch gehört worden. Nun dürfen wir diese Chance nicht zu lange verzögern, das schadet am Ende dem Handel mit unseren Nachbarländern und damit auch unserem Wohlstand. Selbst bei mir in Schwaben sind schon Betriebe an mich herangetreten und fragen, wie kann das sein, dass sich dieser Bau so lange verzögert? Das heißt, die Wirtschaft auch aus Bayern hat da wirklich ein großes Interesse dran.
Der Bundestagswahlkampf nimmt Fahrt auf und wird aggressiver. Sogar Staaten wie Russland nehmen über die sozialen Netzwerke Einfluss. Wie fühlen sich Wahlkämpfer in diesen schwierigen Zeiten? Wie gehen Sie persönlich mit Drohungen, Fake-News und Desinformationskampagnen um?
Ich stelle fest, dass inzwischen eigentlich alle, die Wahlkampf machen, leider mit diesen Entwicklungen in Kontakt kommen. Da wird massiv versucht, Desinformation zu betreiben. Es gibt Beschimpfungen und Beleidigungen. Deshalb finde ich es auch absolut richtig, derartige Straftaten anzuzeigen. Niemand muss sich beleidigen und bedrohen lassen oder Hass ertragen. Es muss ein respektvolles, ein vernünftiges Miteinander geben. Doch es gibt auch eine gute Entwicklung: Weil es so viel Böses, Hasserfülltes, Hetzerisches gibt, sagen gerade jetzt viele unserer Mitglieder, dass sie mithelfen wollen, um dem Einhalt zu gebieten. Wir stellen übrigens fest, dass die Leute beim Haustür-Wahlkampf meistens sehr freundlich sind. Soziale Netzwerke sind eine ganz andere Liga. Wir Mandatsträger können in der Regel damit umgehen, doch die vielen Ehrenamtlichen, die abends noch nach Feierabend rausgehen und bei klirrender Kälte Plakate kleben, dürfen nicht blöd angemacht werden.
Was kann dagegen getan werden?
Einerseits müssen wir in sozialen Netzwerken klar dafür sorgen, dass Politik die Regeln macht und nicht ein Elon Musk. Der Einfluss von Milliardären oder anderen Staaten ist hier zu groß. Man kann auch über öffentlich-rechtliche Netzwerke nachdenken. Außerdem sind gerade die Spitzenpolitikerinnen und -Politiker und alle Abgeordneten gefragt – auch ein Markus Söder oder Hubert Aiwanger. Wir sind Vorbilder und Beispiele. Und so, wie wir miteinander diskutieren, wird es die Gesellschaft auch übernehmen. Darum erwarte ich, dass es beispielsweise im Bayerischen Landtag in den Debatten wieder mehr um Lösungen geht als darum, auf andere einzuhauen – vor allem unter uns Demokratinnen und Demokraten.
Interview: heike Duczek