„Man muss Mut haben“

von Redaktion

Interview Grünen-Abgeordnete Victoria Broßart über den Start in Berlin

Rosenheim/Berlin – Sie kennt sich aus mit Schiene und Technik, als Ingenieurin im Großen genauso wie als Modelleisenbahn-Liebhaberin im Kleinen: Victoria Broßart von den Grünen scheint durch Hobby und Beruf auf einige Probleme vorbereitet, die in Rosenheim und dem Landkreis gelöst werden müssen. Wie sie es mit dem Brenner-Nordzulauf hält, mit der Infrastruktur für Verkehr und mit der Verteidigungspolitik – und wofür man in Rosenheim wirklich Mut braucht – darüber sprach die neue Bundestagsabgeordnete exklusiv mit den OVB-Heimatzeitungen.

Wie viel Tunnelanteil hat Ihre Modelleisenbahn?

(lacht) Überhaupt keine, da ich keine feste Anlage habe.

Sie haben aber auf jeden Fall Affinität zur Bahn. Wie stehen Sie zum Brenner-Nordzulauf?

Wie ich auch schon im Wahlkampf gesagt habe, ist das Projekt in meinen Augen notwendig.

In der Art und Weise, wie es die Bahn plant, also mit zwei neuen Gleisen? Oder würde es reichen, die Bestandsstrecke zu ertüchtigen?

Ich glaube nicht, dass es reicht, die Bestandsstrecke zu ertüchtigen. Wenn wir ernsthaft den Verkehr auf die Bahn verlagern und die europäische Zusammenarbeit ausbauen möchten, auch wirtschaftlich, dann müssen wir schauen, wie wir Güter über die Alpen bekommen. Ich bin nicht davon überzeugt, dass wir das mit Lkws lösen können. Selbst wenn sie elektrisch fahren, ist der Alpenübergang eine Herausforderung. Daher müssen wir Güter auf die Bahn verladen. Und wenn wir Güter auf die Bahn verladen, dann brauchen wir Kapazitäten, dann brauchen wir Strecken und dann brauchen wir auch für den Fall der Fälle eine Ausweichroute.

Was die Zusammenarbeit angeht: Befürchten Sie denn negative Folgen, wenn Deutschland nicht in die Gänge kommt?

Ja. Ich glaube, man hat inzwischen sehr deutlich gesehen, dass wir uns nicht mehr an den USA orientieren können. Das heißt, wir brauchen ein starkes Europa, das zusammenarbeitet. Auf der einen Seite bedeutet das: gemeinsame Außenpolitik und Verteidigungspolitik. Auf der anderen Seite ist es auch wirtschaftlich ein Riesenthema. Wir wollten Exportweltmeister sein und es gerne bleiben. Und irgendwohin müssen wir natürlich exportieren. Nach wie vor ist Europa einer der wichtigsten Absatzmärkte, den müssen wir halten.

Durchforstet man die Sozialen Medien nach Ihnen, findet man Beiträge über Radwege. Das sind eher kommunalpolitische Themen. Sind Sie damit in Berlin richtig aufgehoben?

Wenn der Rad- oder Fußweg am Ende gebaut wird, ist das Kommunalpolitik. Aber die Kommune kann sich immer nur in dem Rechtsrahmen bewegen, der vom Bund gesetzt wird. Das ganze Regelwerk, der rechtliche Rahmen, das ist alles Bundespolitik. Straßenverkehrsordnung, Straßenverkehrsgesetz, aber auch das allgemeine Eisenbahngesetz oder das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz: Das ist alles Bundespolitik. Und in meinen Augen geht die nicht weit genug. Wir haben zum Beispiel die Empfehlungen für Radverkehrsanlagen, kurz ERA. Und es gibt auch die EFA, die Empfehlung für Fußverkehrsanlagen.

Fußverkehrsanlagen – ein wunderschönes Wort.

(lacht) Deutsch ist eine tolle Sprache. Wir besitzen so schöne Worte. Jedenfalls hat sich jemand Gedanken gemacht und ein Regelwerk aufgestellt, wie man den perfekten Radweg oder den perfekten Fußweg baut. Diese Empfehlungen gibt es, sie sind aber nicht verpflichtend. Länder wie Baden-Württemberg sagen, wir halten uns dran. Und es gibt Länder wie Bayern, die sagen, ist uns doch egal. Und ich finde, das geht einfach nicht. Wir brauchen bundesweit ein einheitliches Regelwerk.

Ich glaube, wenn Sie perfekte Radwege in Rosenheim schaffen wollten, müssten Sie Teile der Stadt neu bauen.

Nein, das glaube ich nicht, keine Sorge. Es liegen diverse Pläne schon in der Schublade. Auch für ein Radwegenetz. Beim ISEK (Integriertes städtebauliches Entwicklungskonzept, Anm. der Red.) sind sehr viele Ideen eingereicht worden. Im Prinzip ist alles da. Man tut sich hier nur ein bisschen schwer, damit zu arbeiten.

Radwege gehen oft auf Kosten der Autos. Fahren Sie Auto?

Ich habe kein Auto, ich fahre hauptsächlich Fahrrad. Das ist manchmal eine Herausforderung. Man muss Mut haben, um hier mit dem Fahrrad unterwegs zu sein.

Allerdings.

Wenn ich nach Raubling zur Arbeit fahre, dann fahre ich den Inn-Damm entlang. Dann den Mangfall-Damm runter, dann in Richtung Happing, schließlich am Happinger See entlang. Da muss ich nicht die Abgase von den Autos an der B15 einatmen, fahre alternativ auf einem schönen Radweg am See. Da ist es morgens ruhig, und einen wunderschönen Bergblick habe ich auch noch. Da macht Radfahren dann Spaß.

Welche Themen aus der Region wollen Sie noch mit nach Berlin nehmen?

Ein Herzensthema für mich ist die Reaktivierung von Bahnstrecken. Und da haben wir ja hier in der Region allein drei. Nämlich Abzweig Landl – Thansau – Rohrdorf, Bad Endorf – Obing. Und die Wasserburger Altstadtbahn. Auch da haben wir das Problem, dass jedes Bundesland andere Regeln hat, ab wann es infrage kommt, so eine Bahnstrecke wiederzubeleben. In Bayern ziert man sich ein bisschen und hat vor allem Kriterien geschaffen, warum man Bahnstrecken nicht reaktivieren sollte.

Alte Strecken zu reaktivieren ist das eine. Aber zunächst sollten ja erst mal die funktionieren, die wir haben, oder?

Die Sanierung der Deutschen Bahn ist ein endloses Thema. Sie kennen die Meinung meiner Partei, das ist auch meine: Das funktioniert aus dem laufenden Haushalt einfach nicht. Und zusätzlich haben wir ja immer noch die Situation, dass der Krieg in der Ukraine tobt. Die aktuellen Gespräche zwischen Trump und Putin zeigen mal wieder: Putin ist nicht an Frieden interessiert. Darum bin ich froh, dass wir dieses Paket durch den Bundestag gebracht haben. Eine Ausnahme in der Schuldenbremse für Verteidigung, Sicherheit und Zivilschutz und ein Sondervermögen für Infrastruktur und Klimaschutz.

Sondervermögen, das heißt neue Schulden.

Natürlich, das heißt Schulden. Es ist in meinen Augen zwingend in der aktuellen Situation, dass wir in unsere Infrastruktur investieren. Und zwar schnell. Das funktioniert nicht aus dem laufenden Haushalt. Wenn wir uns das Geld vom Mund absparen, würden wir Jahrzehnte brauchen. Wir müssen Kredite aufnehmen. Wir müssen in die Bahn investieren. Wir müssen in den Zivilschutz, Feuerwehr und THW investieren. Wir müssen schauen, dass wir unabhängiger in der Energieversorgung werden. Wir müssen auch in Stromnetze und Speicher investieren, aber auch in Geothermie. Das ist der große Schatz, auf dem wir hier sitzen, der eigentlich kaum genutzt wird. In München ist man da weiter. Aber wir müssen auch in Bildung investieren. Es funktioniert nicht, wenn das Dach der Schule undicht ist und im Klassensaal der Overhead-Projektor steht, mit dem mein Vater schon gelernt hat. Durch die Schuldenbremse hat sich viel angestaut. Letztendlich haben wir zwar keine Schulden in Geld gemacht, dafür aber Schulden in Infrastruktur. Und außerdem hört der Klimawandel auch nicht einfach auf, nur weil wir gerade mit anderen Dingen beschäftigt sind.

In Rosenheim wurden die Menschen daran in den vergangenen Jahren erinnert.

Es kann sehr gut sein, dass wir im Sommer wieder daran erinnert werden. Entweder wir bekommen wieder die Variante Starkregen oder wir bekommen die Variante Dürre. Beides macht keinen Spaß. Ich bin sehr froh über die 100 Milliarden Euro, die aus dem Sondervermögen in den Klima- und Transformationsfond gehen. Dieses Geld kommt uns allen zugute.

In der Opposition befindet sich neben Ihnen eine sehr starke AfD. Wie wird die parlamentarische Arbeit die nächsten Jahre ausschauen?

Das macht mir etwas Sorgen, wenn man dann vorne am Rednerpult steht und diesen riesigen Block vor den Augen hat. Die AfD ist jetzt schon bekannt dafür, dass sie an parlamentarischer Arbeit überhaupt kein Interesse hat. Die Leute der AfD verachten dieses System und die Demokratie. Die sind eigentlich nur da zum Stören, zum Pöbeln und um den Betrieb lahmzulegen. Und wenn man jetzt schaut, wie viele die sind – dann kann das richtig schlimm werden. Und auf der anderen Seite hat man dann die Linke sitzen, die auch eine sehr laute Opposition darstellen wird. Wir Grünen sind die Oppositionspartei der Mitte. Wir möchten eine konstruktive Opposition sein. Wie es Robert Habeck gesagt hat: Die Aufgabe der Opposition ist, sich mit der Regierung zu beschäftigen. Die Aufgabe der Regierung ist, sich mit der Realität zu beschäftigen. Wir sehen es als unsere Aufgabe an zu überwachen, dass die Regierung sich mit der Realität beschäftigt.

Was werden Sie hauptsächlich überwachen?

Meine persönliche Aufmerksamkeit wird sich stark auf den Verkehrsbereich richten. Wenn ich schon wieder höre, dass man aus dem Verbrenner-Aus aussteigen will, dann finde ich das interessant, denn: Das ist eine EU-Regelung. Wie man das als Deutschland im Alleingang umsetzen will, weiß ich nicht. Es wird aber auch sonst eine interessante „Überwachungsaufgabe“. Die Union hat sich im Wahlkampf sehr stark der AfD angenähert, was das ganze Thema Migration angeht, auch was Wirtschaft angeht. Und wenn man dann liest, dass aus der Wirtschaft wieder Vorschläge kommen, im Zuge einer Karenzzeit die ersten Tage der Krankschreibung nicht zu bezahlen oder die tägliche Maximal-Arbeitszeit aufzuweichen, dann müssen wir immer wieder darauf hinweisen, dass das nicht geht. Wir dürfen in Deutschland diesem Neoliberalismus nicht hinterherrennen. Wir waren mal eine soziale Marktwirtschaft. Es wäre schön, wenn wir uns daran wieder erinnern.

Für den neuen Bundestag wird bald eine Entscheidung anstehen. Es geht um den Brenner-Nordzulauf. Was meinen Sie? Lieber so schnell wie möglich anfangen, ohne Verzug? Oder doch noch aufwendig prüfen, wie es mit diesen auch von der Union geforderten Änderungen im Plan ausschaut?

Die Bestandsstrecke ist 1858 eröffnet worden und quasi immer noch mehr oder weniger unverändert so im Betrieb.

Ja, warum soll man dann was ändern? Funktioniert doch, oder?

Ja, es läuft seit 170 Jahren, irgendwie. In den 1970ern ging es los, seitdem macht man sich über die Brenner-Achse Gedanken. Und heute sind wir immer noch am Planen. 2040 soll es dann fertig sein. Das sind gigantische Zeiträume, über die wir hier reden. Wenn wir immer noch eine Variante prüfen, verzögert sich das weiter. Man wird nie die perfekte Lösung haben, die alle zufriedenstellt. Das geht bei solchen Projekten gar nicht. Wir können aber nicht darauf warten, dass die Bestandsstrecke auseinanderfällt und dann sagen: Okay, jetzt fangen wir mal an, und in 80 Jahren haben wir dann eine Lösung. Von daher bin ich der Meinung, wir sollten langsam ins Tun kommen.

Interview: Michael Weiser

Artikel 10 von 11