Jugendliche mit „Loch im Leben“

von Redaktion

Interview Professor Dr. Ulrich Voderholzer über die Corona-Fehler der Politik

Prien – Die Schön-Klinik Roseneck in Prien hat kürzlich ihre Jugendvilla mit 48 weiteren Betten für psychisch kranke Kinder und Jugendliche eröffnet. Damit stehen insgesamt 722 Betten in einer der größten Fachkliniken für Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland zur Verfügung. Der Bedarf ist riesig und das hängt auch mit den Folgen von Corona zusammen.

Im Rahmen unserer OVB-Serie „Fünf Jahre Corona“ haben wir mit Prof. Dr. Ulrich Voderholzer, Ärztlicher Direktor der Roseneck-Klinik, gesprochen. Ein Interview über eine besonders für die junge Generation belastende Zeit, die Folgen und die (mangelnde) Aufarbeitung. Wer eigene Erfahrungen und Geschichten aus der Corona-Pandemie teilen möchte, kann uns jederzeit per Mail über corona@ovb.net kontaktieren.

Fünf Jahre sind seit dem Beginn der Pandemie vergangen – wie hat sich Corona auf Ihre Klinik ausgewirkt?

Wir behandeln Kinder ab dem zwölften Lebensjahr und haben in der Corona-Zeit eine deutliche Zunahme von Anmeldungen erlebt. Wir haben unsere Kapazitäten im Jugendbereich über die Jahre erweitert. Und trotzdem haben wir gemerkt, dass wir den Bedarf gar nicht vollständig decken können. Es gab Wartezeiten und die sind natürlich bei einer schweren psychischen Erkrankung nicht günstig. 

Woran lag das?

Das deutsche Gesundheitswesen arbeitet ja seit langer Zeit daran, dass die schnelle ambulante Versorgung verbessert wird. Aber das Gegenteil war und ist der Fall. Die ambulanten Therapiemöglichkeiten waren noch mal schlechter in der Corona-Zeit. Es war schwieriger, Therapieplätze zu finden, sodass viele Jugendliche, die psychisch erkrankt waren, keine Therapieplätze gefunden haben. 

Wie haben Kinder und Jugendliche generell diese Corona-Zeit erlebt?

Es war für die Kinder und Jugendlichen ganz besonders belastend. Man könnte sogar sagen, es war die Altersgruppe im Spektrum, die vielleicht am stärksten die negativen Folgen erlebt hat.

Wurde das von der Politik in dieser Zeit unterschätzt?

Die Regierung und die Verantwortlichen, die die Corona-Maßnahmen getroffen haben, hatten das viel zu wenig im Blick. Das hat man wirklich unterschätzt und später auch erkannt, dass das ein Fehler war. Etwa 90 Prozent der Jugendlichen, die wir aufgenommen haben, berichteten, dass die Pandemie ein zusätzlicher oder ein massiver Belastungsfaktor war. Es gab aber auch Jugendliche bei uns, die direkt durch die Pandemie krank geworden sind. Das haben wir bei Essstörungen erlebt, aber auch bei Angst- und Zwangsstörungen. 

Warum haben gerade Kinder und Jugendliche diese Zeit als belastend empfunden?

Viele Jugendliche empfinden die Zeit als eine Art Loch in ihrem Leben. Für die gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist es besonders wichtig, sich von der Familie auch mal abzunabeln, sich mit anderen zu treffen, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden, seinen Platz in der Gruppe zu finden. Es werden Lernerfahrungen gemacht, wie man mit Gleichaltrigen auskommt und Freundschaften entwickelt. Genau in dieser Phase sind Jugendgruppen, Sportgruppen, Tanzgruppen, Freizeitaktivitäten, die für Jugendliche extrem wichtig sind, beschränkt oder ganz eingestellt worden. Und dann sind viele in ein massives Loch gefallen, weil ihnen das plötzlich alles gefehlt hat. 

Ihre sozialen Kontaktmöglichkeiten gingen verloren…

Genau – und die Tagesstruktur daheim. Ein normaler Schlafrhythmus, ein Rhythmus an Mahlzeiten und ein Programm tagsüber. Je nach Alter entweder Kita, Schule, Ausbildung oder Beruf. Wenn diese Tagesstruktur nicht da ist, wirkt sich das sehr negativ auf die Psyche aus. Es führt dazu, dass man schlechte Verhaltensweisen annimmt, stundenlang Computerspiele macht oder sich nur in den sozialen Medien bewegt. Wir haben gesehen, dass dann plötzlich eine Essstörung den Tagesablauf bestimmt hat. Essstörungen haben stark zugenommen, und zwar nicht nur in Deutschland, da gibt es Daten aus Europa, weltweit.

Warum Essstörungen?

Menschen reagieren mit Essstörungen auf negative Emotionen, negative Gefühle, also Einsamkeit, Niedergeschlagenheit. Eine Reaktionsform ist, den Frust wegzuessen, ständig etwas zu essen. Andere mit Magersucht stellen ihr Essen ein und haben das Gefühl, eine bessere Kontrolle über ihren Alltag und ihre Gefühle zu haben. Grund dafür war eine Vereinsamung durch die Kontaktbeschränkungen. Das war die stärkste psychische Belastung. Das hat auch vermehrt zu Angst- und Zwangsstörungen geführt. Also da kann ich von Fällen berichten, wo die Angst, man könnte andere Menschen schädigen, zu tiefen psychischen Problemen geführt hat.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Ein Mädchen, an das ich mich erinnern kann, 16 Jahre, hat damit angefangen, sich übermäßig die Hände zu waschen. Sie hatte Angst, sie könnte dann ihre Mitschüler infizieren. Dann würden die krank werden, dann würden diese ihre Eltern anstecken und dann würden deren Eltern sterben. Sie ist dann gar nicht mehr hinausgegangen, konnte nicht mehr zum Handball-Training gehen.

Sind viele Jugendliche heute noch depressiv?

Der Anteil an psychischen Krankheiten ist sehr hoch unter Jugendlichen im Moment und der ist in der Corona-Pandemie höher geworden. Das waren vor allem Depressionen als Diagnose. Mir ist aber wichtig, dass jetzt nicht per se die gesamte Jugend als psychisch labil und krank hingestellt wird. Es gibt natürlich auch viele Kinder und Jugendliche, die das durch ein stabiles Bezugssystem gut bewältigt haben. Also durch eine stabile Familie, durch Rückhalt und liebevolle Unterstützung von Eltern und Freunden. Bei manchen ist die sogenannte Resilienz auch ein bisschen angeboren. 

Aber das Erbe dieser Corona-Zeit ist auch heute noch bei Ihnen in der Klinik spürbar…

Das ist heute noch spürbar; und zwar in zweierlei Hinsicht. Als Erstes, wenn eine psychische Erkrankung einmal besteht, dann geht sie nicht so schnell wieder weg. Wenn man an einer Magersucht richtig ausgeprägt erkrankt, dann muss man mit einer mehrjährigen Therapie rechnen. Das kann man also bessern im Rahmen des stationären Aufenthalts, aber die Krankheit ist dann noch nicht komplett weg. Teil zwei: Den Leuten fehlt ein Teil ihrer Jugend, ein Teil ihrer Entwicklung. Stichwort soziale Kompetenz, soziale Fertigkeiten. Viele haben da Defizite und glauben, dass soziale Medien ein Ersatz für echte Kontakte mit Menschen und Gruppen sind. 

Lassen sich diese verlorenen Erfahrungen in der Corona-Zeit für die Jugendlichen irgendwie ersetzen?

Das ist nicht so leicht zu beantworten. Also es wäre eine pessimistische Perspektive, wenn man sagen würde, ein Mensch kann im Leben keine Erfahrungen nachholen. In der Psychotherapie denken wir jedenfalls immer positiv und versuchen, Steine ins Rollen zu bringen, die dann weiter rollen müssen. Aber du musst aktiv werden! Es kann aber auch schon sein, dass jemand später sagt, das werde ich nie wieder ganz nachholen können. Das kann ich auch persönlich nachvollziehen. Ich war in der sechsten Klasse ein paar Tage im Skilager und erinnere mich heute noch an das für mich beeindruckende Erlebnis. Weil dort – genau wie bei Trips ins Schullandheim – wichtige Dinge angestoßen wurden. 

Sind die Fehler aus Ihrer Sicht ausreichend aufgearbeitet worden?

Es gab eine Regierungskommission in der Zeit danach, wo man spezielle Situationen der Kinder und Jugendlichen aufgearbeitet hat. Da gibt es auch einen Report mit Empfehlungen. Der Tenor war schon klar: Wir haben Fehler gemacht. Hauptfehler war, dass man zu sehr den Blick auf alte Menschen hatte, weil viele gestorben sind. Das hatte man total im Blick. Die Gruppe der Jugendlichen, das waren in Anführungszeichen die Bösen. Die halten sich an nichts, die tragen die Masken nicht und sind auch noch die Infektiösen. Dass man die Kinder und Jugendlichen selber auch schützen muss und wie sehr die belastet waren, das hat man wirklich zu wenig gesehen. Dabei sind Kinder und Jugendliche ja unsere Zukunft. 

Welche Probleme hat diese Haltung Ihrer Meinung nach langfristig ausgelöst?

Das sind ja die Menschen, die wir später brauchen zum Arbeiten. Und eine hohe psychische Belastung bei den Kindern und Jugendlichen hat massivste negative Auswirkungen für später. Ich meine, wenn jemand eine Depression hat, dann bricht er seine Ausbildung ab, dann schafft er den Beruf nicht. Das hat man im Nachhinein gesehen und ich glaube, die Mehrzahl der Leute ist der Meinung, dass die Schulschließungen und Kitaschließungen in dieser Härte ein Fehler waren. Also wenn jetzt nochmal eine Pandemie kommen würde, würde man das nicht mehr so durchziehen. Auch die Kontaktbeschränkungen der Jugendlichen würde man in der Weise nicht mehr befürworten.

Eigentlich hätte man es ein bisschen wissen können müssen, es gab ja vor über 100 Jahren schon mal eine Pandemie. Und da waren ja auch ähnliche negative Folgen für die Psyche, mit Einsamkeit, Depressionen, Quarantäne. Das gab es damals auch schon, aber es ist sicherlich nicht mehr ein präsentes Wissen gewesen.

In der Corona-Zeit gab es in verschiedenen Bundesländern unterschiedlich strenge Kontaktbeschränkungen. Merkt man die Folgen heute noch?

Jugendliche, die in der ländlichen Region aufgewachsen sind, waren vielleicht nicht ganz so schlimm belastet in der Pandemie wie in der Stadt. Es gab auf dem Land doch noch mehr Möglichkeiten, Natur zu erleben oder mit Tieren nach draußen zu gehen. Es ist also ein leichter Vorteil, wenn man in einer ländlichen Region lebt. Wegen Natur erleben, man hat seine Bezugspersonen. In der Stadt dagegen hat man extrem viele Menschen, die einem fremd sind. Aufwachsen in Großstädten ist eher ein Stressfaktor. 

Zurück zu den Lehren aus der Corona-Pandemie. Was sind für Sie die wichtigsten?

Lehre Nummer eins: Man muss die Versorgungssituation verbessern und ein System etablieren, wo erkrankten Personen schnellere Hilfe angeboten werden kann. Es gab und gibt für Kinder ja auch Schulpsychologen, aber das scheint nicht ausreichend gewesen zu sein. Die Rate an Belastungen war einfach extrem hoch. Zweitens: auf jeden Fall weniger Kontaktbeschränkungen, weil diese einfach extrem schädlich sind für die Psyche. Drittens: die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen viel mehr im Blick haben. 

Wie kann man Kinder und Jugendliche außerdem stärken?

Viele Jugendliche schließen ihre Schule ab und dann hängen sie erstmal herum. Ich bin der Überzeugung, dass ein verpflichtendes soziales Jahr, wo man sich in Vollzeit in die Gemeinschaft einbringt, sinnvoll wäre. Das fehlt vielen Jugendlichen.

Hat die besondere Beachtung älterer Menschen in dieser Zeit durch die Politik auch mit potenziellen Wählerstimmen zu tun?

Das wäre natürlich ein böser Gedanke, dass ihnen die Kinder nicht so wichtig waren, weil es auch um Wählerstimmen ging. Ich glaube, man ist durch die Pandemie am Anfang ein bisschen überrascht worden und war unvorbereitet. Im Januar 2020 hätte kein Mensch irgendwie  gedacht, dass es sowas überhaupt gibt. Man hat gesehen, dass reihenweise alte Menschen sterben, dann hat man gesagt, jetzt müssen wir alle verhindern, dass alte Menschen sterben. 

Wurden Sie als ausgewiesener Experte für den Seelenzustand von Kindern und Jugendlichen in die Aufarbeitung der Corona-Pandemie ausreichend eingebunden?

Von unserer Kategorie wurde niemand eingebunden. Ich bin mir relativ sicher, dass man zu wenig Experten einbezogen hat. Wir haben aber im Nachhinein relativ viele Presseanfragen gehabt und konnten so ein bisschen mit dazu beitragen, auf die Probleme hinzuweisen. 

Presse ist allerdings eine andere Sache als von Krankenkassen oder Regierungsstellen…

Von Regierungsstellen ist da nichts gekommen. 

Interview: Lars Becker

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