Stephanskirchen – Wald, Wiese und ein Bauernhof – mehr gab es bis 1935 nicht, dort, wo heute der Stephanskirchener Ortsteil Haidholzen ist. Im Zuge der Militarisierung während des Dritten Reiches wurde ab 1937 der Bau der Kaserne am Haidenholz vorbereitet. Bis 1945 hatte das Gebiet besonders militärische Bedeutung. Auch als KZ-Außenlager von Dachau. Erst mit Ende des Krieges machten die Heimatvertriebenen Haidholzen zu dem, was es heute ist: ein familiäres, dicht besiedeltes Wohngebiet für rund 2800 Menschen.
Familie mehrfach zwangsumgesiedelt
„Wir waren die Baracken-Grattler“, sagt Erwin Licht. Seine Kindheit in dem Barackenlager der alten Kaserne im Haidenholz hat ihn bis heute geprägt. Der 86-Jährige kam nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Stephanskirchen. Im März 1945, als Licht sechs Jahre alt war, musste die Familie ihre Heimat im schlesischen Kattowitz (heute Polen) verlassen – zum zweiten Mal. Bereits 1940 wurde die Familie von Czernowitz (Ukraine) zwangsumgesiedelt. Grund dafür waren der Hitler-Stalin-Pakt und die damit verbundene Aufteilung Polens zwischen Deutschland und der Sowjetunion. In Stephanskirchen kamen die Lichts nach der Flucht unter – und fanden dort eine neue Heimat.
An seine Ankunft erinnert sich Erwin Licht noch gut. „Wir lebten zu zwölft in einem Nebenzimmer der damaligen Westerndorfer Wirtschaft ‚Zum Mühltaler‘.“ Etwa 20 Quadratmeter sei dieses groß gewesen. Drei Jahre verbrachten sie dort, bis sie in eine der Flüchtlingsbaracken im heutigen Haidholzen, welches damals noch als „Stephanskirchen-Lager“ bezeichnet wurde, ziehen konnten. Dort standen der Familie zwei Zimmer zur Verfügung.
Schlimme Zustände während der Flucht
An die „erbärmlichen Zustände“ der Nachkriegsjahre erinnert sich Licht bis heute. Das Land lag in Trümmern, es gab wenig Essen, kein fließendes Wasser. Er weiß noch genau, wie sie in Schlesien vor den heranrückenden Russen flohen, sich in Viehwaggons drängten, ohne zu wissen, was sie erwartete. Der Vater war im Krieg gefallen. Seine Mutter, die Großeltern, seine Tante und fünf Geschwister quetschten sich in einen völlig überfüllten Zug. Große Teile ihrer Habseligkeiten mussten sie zurücklassen. Drei Monate dauerte die Fahrt, bis sie am Bahnhof Rosenheim ankamen.
Die Reise war beschwerlich, geprägt von Hunger und Angst. Besonders tragisch für die Familie Licht war der Verlust eines der Kinder. Erwin Licht spielte gerade mit seinem Bruder, als sich die Waggontür des Zuges plötzlich öffnete und der Bub nach draußen stürzte. „Wir mussten ihn zurücklassen“, erinnert sich der 86-Jährige. Mithilfe des Roten Kreuzes gelang es den Lichts 1950 aber, das verlorene Kind ausfindig zu machen und zurückzuholen. Sein jüngster Bruder hingegen überlebte die Flucht nicht. Er starb an den Folgen der Unterversorgung.
Kaserne, KZ, Flüchtlingssiedlung
Dass Haidholzen zum Flüchtlingslager wurde, geht auf die Gegebenheiten vor Ort zurück. Die alten Baracken waren schon vor der Ankunft der Heimatvertriebenen da. Denn ab 1939 wurde die Kaserne am Haidenholz als Flak-Einheit (Flak bedeutet Flugabwehrkanonen) zur Abwehr feindlicher Flugzeuge eingesetzt. 1942 standen zwischen Haidholzen und Waldering rund 50 Baracken, die während der Kriegszeit als Produktionsstätte für Luftwaffenmunition und als Unterkunft für die Offiziere genutzt wurden, erklärt Karl Mair.
Mair ist gebürtiger Stephanskirchener und Bürgermeister der Gemeinde Stephanskirchen. Seit seiner Jugend interessiert er sich für die Geschichte seiner Heimat, war Ortsheimatpfleger und später auch Leiter des Stadtarchivs Rosenheim. „Haidholzen ist ein Schwenk durch die Zeitgeschichte ab der Zeit des Dritten Reichs“, sagt er.
Zwischen Dezember 1944 und März 1945 wurde das Wehrmachtgelände zum KZ-Außenlager. Rund 230 Häftlinge mussten dort im Schnitt leben. Aus Archiv-Unterlagen der KZ-Gedenkstätte Dachau geht hervor, dass 217 männliche Häftlinge in Stephanskirchen (Stand April 1945) Zwangsarbeit verrichteten, kurz bevor das Lager aufgegeben wurde. Mindestens drei von ihnen kamen ums Leben: An Martin Sabozki und Gusma Martschenko erinnern heute zwei Stolpersteine an der Haidenholzstraße. Beide wurden, so Mair, hinter der Kirche in Baierbach beerdigt, später exhumiert und nach Dachau überführt.
Mindestens drei Tote am „Ort des Terrors“
Aus dem Geschichtswerk „Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager“ von Wolfgang Benz und Barbara Distel geht hervor, dass ein Häftling namens Joop Scholten ebenso wie Sabozki und Martschenko im Februar/März 1945 zu Tode gekommen ist. Aus überlieferten Berichten des ehemaligen Inhaftierten Leo van der Tas ist bekannt, dass besonders der Hunger für die Häftlinge zur Qual wurde und zum Tode führte. Von Tötungsverbrechen auf die Häftlinge gibt es in den Chroniken keine Hinweise.
Zum Ende des Konzentrationslagers in Stephanskirchen ist laut verschiedener Quellen nur wenig bekannt. Vermutlich, so Mair, wurden Häftlinge kurz vor Eintreffen der Amerikaner in einem sogenannten Todesmarsch nach Dachau getrieben. Bei Luftangriffen 1944/1945 wurden Teile der Wehrmachtkaserne zerstört. Nach Kriegsende wurde das Flak-Gelände geplündert. „Ab Juli 1945 nutzen die amerikanischen Besatzungskräfte die Baracken als Internierungslager für ehemalige NS-Funktionäre und als Durchgangslager für verschleppte DPs, also Displaced Persons aus Osteuropa“, berichtet Mair. Ebendiese Baracken wurden ab 1946 zur Unterbringung der Heimatvertriebenen genutzt.
Die Zustände nach Kriegsende waren schlecht. „Die Einheimischen hatten kaum etwas und sollten das bisschen auch mit uns teilen“, sagt Licht. Doch die Geflüchteten packten an. Im Oktober 1946 gründete der Lehrer Leopold Lukas, selbst Vertriebener, die erste Lagerschule. Dort, wo heute das Café Bauer steht, befand sich die 45 Meter lange und zwölf Meter breite Baracke, in der etwa 120 Kinder von zwei Lehrkräften unterrichtet wurden. Ein Lichtblick für die Flüchtlingskinder, der ihnen Hoffnung und eine Perspektive gab. 1950 gründete Ruth Richter den ersten Kindergarten für die Flüchtlingskinder. Im selben Jahr wurde die Lagerschule in den nördlichen Teil des ehemaligen Kasernengeländes in eine größere Baracke verlegt.
Neben seiner Tätigkeit als Lehrer erstellte Leopold Lukas auch die erste Chronik von Haidholzen. Aus dieser geht hervor, dass im Februar 1953 der neue Ortsteil den Namen Haidholzen erhielt. Heute erinnert ein Großteil der Straßennamen an die Vertriebenen und deren Heimat: etwa die Sudetenlandstraße, Schlesierstraße, Rübezahlweg oder Egerlandstraße. Laut Mair gab es bereits ab 1948 erste Pläne, anstelle des Lagers eine neue Vertriebenensiedlung entstehen zu lassen. Ab 1952 wurden die ersten Barackensiedlungen dann systematisch aufgelöst. Noch im selben Jahr bauten die oberbayerischen Heimstätten nach den Plänen des Architekten Ludwig Kautzky entlang der Hubertusstraße die ersten Vertriebenenwohnblöcke. Kautzkys ursprünglicher Plan, ein Wohn- und Gewerbegebiet für 900 Familien mit dem Namen „Neu-Reichenberg“ zu errichten, wurde jedoch abgelehnt. Ab Mitte der 1960er-Jahre wurden auch die Baracken im nördlichen Teil von Haidholzen abgerissen und die Wohnblöcke des Katholischen Siedlungswerks gebaut. „Seit den 1970er-Jahren zogen zunehmend mehr Einheimische nach Haidholzen und der Ortsteil wuchs weiter“, erläutert Mair.
Firma gegründet
von Vertriebenen
Zu den ersten Betrieben von Heimatvertriebenen gehörten die Spinnerei Pfeifer und Riecken und die „Oberbayerische Tuchfabrik“ in dem ehemaligen U-Bau der Flak-Kaserne, wo sich heute die Anfang der 1980er-Jahre gebaute Siedlung Haidholzen-Mitte befindet. Im alten Stabsgebäude der Kaserne in der Haidenholzstraße kam die von Otto Hoffmann gegründete Süßwarenfabrik PIT unter. Wo einst Wehrmachtoffiziere patrouillierten, wurden fortan Bonbons und Lutscher produziert. Heute befindet sich der AWO-Kindergarten Hotzenplotz in dem ehemaligen Stabsgebäude. Mit der Eröffnung ihrer Bäckerei im Jahr 1954 waren Maria und Willy Bauer die ersten Einheimischen, die in Haidholzen ihren Betrieb eröffneten. Dort, wo einst die Baracke der Lagerschule stand, werden nun Brezen und Gebäck verkauft. 1952 ist auch das Gründungsjahr der Sudetendeutschen Landsmannschaft (SL) Stephanskirchen. Die Ortsgruppe entstand auf Initiative des Oberlehrers Josef Preußler, dem Vater des später weltbekannten Kinderbuchautors und Ehrenbürgers der Gemeinde Stephanskirchen, Otfried Preußler. Ab 1994 war Erwin Licht Obmann der SL Stephanskirchen. Mit 86 Jahren ist er einer der wenigen noch lebenden Zeitzeugen dieser Zeit und Ur-Bürger Haidholzens.
Härten der Flucht halten Licht nicht auf
Durch die Flucht verlor Licht einige Schuljahre, beendete diese schließlich nach der siebten Klasse und absolvierte eine Weberlehre. Im Jahr 1960 erfüllte sich die Familie Licht den Traum von den eigenen vier Wänden. „Meine Mutter ließ sich die Witwenrente auf zehn Jahre auszahlen. Davon bauten wir unser Haus“, berichtet Licht. Noch heute leben die Lichts in diesem Haus. Nach der Geburt seines Sohnes holte Erwin Licht die Mittlere Reife nach, machte den Meister und gründete 1981 mit seiner Frau Erika (81) die Simssee Handweberei in Waldering. Auch Enkel Johannes Licht ist inzwischen in die Firma eingetreten. Das Weber-Handwerk wird bei der Familie nunmehr in dritter Generation fortgeführt. „Ich habe keine gute Bildung gehabt. Trotzdem habe ich etwas aus mir gemacht.“