Rosenheim – Er ist einer der einflussreichsten Politik-Fachleute in Deutschland, einer der wenigen, die zu Publikum und Wissenschaft gleichermaßen durchdringen: Herfried Münkler (73) schreibt Bestseller über Staatskunst und Geschichte und stößt mit seinen grundlegenden Studien Diskussionen an. Auch Kanzler Friedrich Merz beruft sich auf Münkler. Am Freitag gastiert der Vordenker mit seinem neuen Buch in Rosenheim. Zuvor sprach er mit dem OVB exklusiv über Deutschlands Zukunft, die Machtkämpfe der Gegenwart und gefährliche Beutegier im Osten Europas.
„Macht im Umbruch“: So heißt ihr neues Buch, erschienen in turbulenten Zeiten.
Das ist sicher so. Aber in diesem Buch beschreibe ich weniger die Turbulenzen der Zeiten als vielmehr die geopolitische Situation Europas, die man als Sandwich-Position bezeichnen kann.
Eine undankbare Lage zwischen zwei großen Playern?
Ja, bedroht von Putin und erpresst von Trump. Von dort aus geht es mir um die Frage, was ich als Europäer tun muss, um mich selbst behaupten zu können. Inwieweit muss sich die EU, respektive der europäische Bereich der NATO, verändern, um das hinzubekommen? Und welche Rolle spielt dabei Deutschland?
Was haben insbesondere die Deutschen in den vergangenen 20, 30 Jahren falsch gemacht?
Richtig und falsch stellt sich im Nachhinein sicher anders dar als in der Situation, in der man glaubt, eine einmalige historische Chance zu haben. Nämlich möglichst viel Friedensdividende zu konsumieren. Beide Teile Deutschlands vor 1991 waren sozusagen der am höchsten militarisierte Raum weltweit und wechselseitige nukleare Geiseln. Nach dem Ende des Aufrüstens, während wir alle aufatmeten, drehte sich die Diskussion um diese Frage: Kann man nicht mit weniger den selben Effekt erreichen, nämlich die Stabilisierung des Friedens? Und man kann sagen, dass sich die Deutschen durch die Unterschrift zum Atomwaffensperrvertrag selber in die amerikanische Abhängigkeit gegeben haben.
Hat Deutschland da etwas Entscheidendes versäumt?
Deutschland hat nicht das Projekt verfolgt, mit Franzosen und Briten zu verhandeln und so etwas wie eine europäische nukleare Abschreckung aufzubauen, was sicherlich aus heutiger Sicht angezeigt wäre.
Weder Angela Merkel noch Olaf Scholz hatten ein besonderes Vertrauensverhältnis mit Emmanuel Macron.
Und deswegen hat die Düpierung der Europäer durch Donald Trump Deutschland in besonderer Weise getroffen. Weil es so sehr auf die USA gesetzt hatte.
Ist das Verhältnis unwiederkehrbar ruiniert? Oder gibt es durchaus die Chance, dass ein künftiger Präsident da wieder einen Kurswechsel vornimmt?
Selbst wenn Kamala Harris die Wahl gewonnen hätte, wäre das auch auf ein langsames Zurückziehen der USA aus den europäischen Verpflichtungen hinausgelaufen. Schon Barack Obama hatte den „Pivot to Asia formuliert“, die Feststellung, dass es eher der Indopazifik ist, der sie beschäftigt. Biden war dann aber schon wieder derart mit Russland beschäftigt, dass man das nicht besonders ernst genommen hat.
Den Schuss sollte man nun gehört haben.
Man kann auch sagen, dass diese Katastrophe gleichzeitig für Europa die Chance ist, endlich zu begreifen, dass sie nicht länger der Kostgänger der Amerikaner in Fragen der Sicherheitspolitik sein können, sondern eigene Fähigkeiten entwickeln müssen, die sie in die Lage versetzen, Russland abzuschrecken. Und zwar so abzuschrecken, dass es die Finger davon lässt, das, was es am Schwarzen Meer respektive in der Ukraine gemacht hat, mit Blick auf die Baltischen Republiken zu wiederholen.
Kanzler Merz hat zuerst zwei Reisen unternommen. Die eine nach Paris und gleich darauf eine Reise nach Warschau. Waren das gleich die beiden richtigen Reiseziele?
Ja. Das Weimarer Dreieck, also Deutschland, Polen und Frankreich: Das ist sicherlich der Kern einer Hierarchie innerhalb der Europäischen Union. Auch wenn sich Großbritannien wieder annähert. Und ich würde sagen, man müsste noch einen Südstaat dazu nehmen, also Italien. Auch wenn es vielleicht mit Giorgia Meloni nicht ganz so einfach ist, aber in den europäischen Verhältnissen ist ja gar nichts besonders einfach. Man kann aber beobachten, dass es diese Fünf sind, die in Fortsetzung des Ramstein-Formats auch die Unterstützung der Ukraine ohne die USA koordinieren.
Stichwort Giorgia Meloni. Viele sehen sie als Postfaschistin. Immerhin ist es mit ihr einfacher umzugehen, als mit Ungarns Viktor Orban.
Das denke ich auch. Das, was vielleicht an Meloni irritierend ist, sind eher Fragen ihrer Innenpolitik. Die Europapolitik ist gut kompatibel. Orban hingegen ist ein Problem. Auf Dauer kann das nicht so gehen, dass jährlich zehn Milliarden Euro fließen dafür, dass er immer wieder ausschert.
Außerdem scheint er sich ja längst auch umorientiert zu haben. Putin ist ihm wichtiger als das, was da in Straßburg oder Brüssel besprochen wird.
Das ist das Problem, und da fällt ein weiteres Element der Naivität der Politik nach 1989 und 1991 auf: das Element der Einstimmigkeit. Das war etwas, was bezogen war auf die EWG, also das Europa der Sechs. Man hätte drüber nachdenken müssen, als die Süderweiterungen ins Gespräch kamen. Man hat es beibehalten, auch nach der Osterweiterung. Und das war ein verhängnisvoller Fehler. Das spielt einigen Akteuren ein Vetorecht in die Hand.
Kann man Ungarn loswerden?
Es ist schwer. Eine solche Regelung zu etablieren, stünde ja ebenfalls unter dem Vorbehalt der Einstimmigkeit. Es könnte sich aber eine Reihe von Akteuren zusammenschließen, eine Koalition der Willigen sozusagen. Da könnte nur mitmachen, wer das Mehrheitsprinzip akzeptiert und die von der Mehrheit getroffenen Entscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik mitträgt. Dann stünde Orban unter Zugzwang.
Sie haben lesenswerte Bücher geschrieben, über den Ersten Weltkrieg und über den Dreißigjährigen Krieg. Dagegen geht es uns doch hervorragend, oder?
Ja, gemessen daran geht es uns hervorragend. Aber man kann natürlich nicht sicher davon ausgehen, dass das dabei bleibt. In dem Augenblick, da Putin vielleicht mit Rückentdeckung der Amerikaner als Sieger vom Platz geht, wird man davon ausgehen müssen, dass er eine gewisse Neigung entwickelt hat, das zu wiederholen. Für Erdogan in der Türkei, für Vucic in Serbien könnte das als Beispiel dienen. Und dann haben wir die unglückselige Situation der vielen Nachahmer. Eigentlich müsste man da auch Orban nennen. Denn die Ungarn leiden ja nach wie vor unter den sie betreffenden Regelungen des Pariser Vorvertrags von Trianon im Jahr 1920. Und wenn erst mal Revisionismus und Grenzverschiebung angefangen haben, dann möchten plötzlich viele mitmachen.
Halten Sie Kriege um Territorien in Europa wieder für denkbar?
Wie ich gesehen und gelesen habe, gab es ja jetzt ein Treffen von Rechtsradikalen in Serbien, darunter Maximilian Krah von der AfD, die sich überlegt haben, ob man nicht von Westen aus in die Ukraine einmarschieren sollte, um auf diese Weise Beute zu machen. Das gehört allerdings zu Putins Kalkül, der von vornherein gesagt hat, er will gar nicht die ganze Ukraine haben. Im Westen, dem Teil, der mal zum Habsburger Reich gehörte, könnte man ja überlegen, ob Rumänien oder Polen oder wer auch immer davon Teile bekommt.
Das erinnert an den Umgang Deutschlands mit der Tschechischen Republik 1938 und 1939, oder?
Ganz richtig. Als Hitler im März 1939 die sogenannte „Rest-Tschechei“ zerschlug, lud er Polen und Ungarn als Komplizen ein, sich Teile der Slowakei anzueignen. Diese Art von Komplizenschaft ist eine Form des Aufspaltens von potenziellen Gegenkoalitionen.
Die Europäer müssen aufpassen, dass nicht ein paar aus ihren Reihen plötzlich sozusagen den Beutegeruch in der Nase haben.
Was die Menschen überall umtreibt, vor allem natürlich bei uns in Deutschland: Ist das das Ende der Fahnenstange? Die fetten Jahre: Sind sie vorbei?
Ich bin Jahrgang 1951, bin sozusagen in dem Wohlstand groß geworden. Wir haben gedacht, das geht so weiter. Mehr noch, es wird noch immer mehr. Die Frage, ob das alles unter Druck geraten kann, ist spannend. Auch wenn man sich ansieht, dass wir von jetzt auf gleich aus einer regelbasierten in eine machtbasierte Weltordnung hineingeraten sind. Das gilt nicht nur für Putin, das gilt auch für Trump. Und ja, das hat zur Folge, dass sehr viele unserer sehr schönen Erwartungen und auch der im Sozialstaat steckenden Elemente der Friedensliebe zur Disposition stehen.
Auch, weil wir nicht nur politische Herausforderungen haben. Wir müssen ja gleichzeitig Infrastruktur ausbessern, in Bildung investieren, Migration managen und den Klimawandel meistern.
Und das wird besonders schwierig sein, weil da man eigentlich nur erfolgreich sein kann im Konsens der globalen Art – wenn alle mitmachen. Das ist durch die Entwicklung der letzten Jahre sehr viel schwieriger geworden.
Hätte man sich nicht wenigstens den Konflikt mit Putin sparen können? Hat der nicht bei zwei Reden in Deutschland die Hand ausgestreckt?
Sie meinen zum Beispiel die Rede von 2001 vor dem Bundestag. Was wäre denn passiert, wenn man wirklich darauf eingegangen wäre? Die Angebote lauteten so: keine Osterweiterung der Nato, keine Osterweiterung der Europäischen Union. Im Prinzip wäre Ost-Mitteleuropa dem russischen Einflussbereich überlassen gewesen. Umgekehrt bot Putin an, dass, wenn die Amerikaner Europa verlassen haben, die Deutschen und die Franzosen die Herren dieses Europa sein würden. Das heißt, Putins Angebot hätte ein kleines Europa bedeutet, das tendenziell von Russland erpressbar ist und auch wirtschaftlich abhängig wäre auf der Grundlage von entsprechenden Rohstoff- und Energieträgern.
Und das Bündnis mit den USA hätte schon damals gelitten.
Genau. Das wäre keine besonders verlockende Vorstellung gewesen, denn die Europäer wären sich vermutlich bald in die Haare geraten. Es hätte sich eine antihegemoniale Koalition gegen die Dominanz von Frankreich und Deutschland herausgebildet. Ich glaube, das wäre in Europa tatsächlich nicht gut angekommen.
Interview: Michael Weiser